Bericht der Kommission „Zukunft Sozialer Sicherung“ von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Inhalt: Hauptteil des Berichts: Ein neuer Aufbruch ist notwendig S. 1 Die Grüne Grundsicherung – Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit S. 8 Das Grüne Grundeinkommen: Individualisiert, unbürokratisch, modular S. 20 Die 20 Mitglieder der Kommission waren: Annelie Buntenbach, Astrid Rothe-Beinlich, Bärbl Mielich, Boris Palmer, Brigitte Pothmer, Claudia Schlenker, Daniela Schneckenburger, Eva Jaehningen, Jürgen Borchert, Katrin Göring-Eckardt, Markus Kurth, Nicole Maisch, Reinhard Bütikofer (Vorsitz), Robert Habeck, Stefan Ziller, Sven Giegold, Tarek Al-Wazir, Theresa Schopper, Thomas Poreski, Wolfgang Strengmann-Kuhn 1 Hauptteil des Berichts: Ein neuer Aufbruch ist notwendig1 Gerechtigkeit durch emanzipative Sozialpolitik „Wir wollen eine Gesellschaft gestalten, in der niemand ausgegrenzt wird, in der alle ihre Chancen zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten bekommen,“ mit diesen Eingangsworten stellt unser Grundsatzprogramm Staat und Gesellschaft unter den Anspruch eines „Aufbruchs in eine emanzipative Sozialpolitik“. Ein emanzipativer sozialpolitischer Aufbruch ist fünf Jahre, nachdem wir das formuliert haben, eine Forderung, die in unserer Gesellschaft weithin Widerhall findet. „Wir setzen auf soziale Sicherheit und gerade deshalb auf den Mut zum Wandel. Soziale Sicherheit braucht den Wandel. Und der Wandel braucht seinerseits neue Formen der Sicherung. Das eine geht nicht ohne das andere. Die gerechte Verteilung der wichtigen gesellschaftlichen Güter ist Kernbestandteil bündnisgrüner Politik.“ Auch diese Feststellung stimmt nach wie vor. Aber die Diskussion über die Art von Wandel, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität wieder klar ins Zentrum rücken kann, muss neu geführt werden. Wir orientieren uns dabei an dem erweiterten Begriff von Gerechtigkeit unseres Grundsatzprogramms, der sich nicht auf Verteilungspolitik beschränkt, sondern auch Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit betont. Sozialpolitik seit rot-grün Die Jahre der zweiten rot-grünen Koalition und seither der Großen Koalition waren sozial- und arbeitsmarktpolitisch vor allem geprägt durch drei Auseinandersetzungen: um das von uns Grünen zuerst in Spiel gebrachte Konzept der Bürgerversicherung, um Mindestlohnregelungen, für die wir seit 2004 eintreten, sowie um die Durchsetzung einer Grundsicherung, die wir in unserem Grundsatzprogramm als Schlüsselprojekt definierten: „Die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung, die tatsächlich Armut verhindert.“ Bürgerversicherung und Mindestlohnregelungen kamen zu Zeiten unserer Regierungsbeteiligung nicht voran, weil die SPD und auch Teile der Gewerkschaften hinreichend lange blockierten, nur um jetzt in der Großen Koalition festzustellen, wie bitter es ist, dass rechtzeitige Bewegung versäumt wurde. Bei der Grundsicherung liegen die Dinge anders. Wir haben unsere Konzepte dazu in die Diskussion um die Agenda 2010 eingebracht und die Hartz-Reformen als – widersprüchliche – Schritte in Richtung Grundsicherung durch Parteitagsentscheidung mitgetragen. Wir waren uns bewusst, dass diese Reformen für viele Menschen schmerzlich waren. Wir verteidigten sie aber, um nicht zuzulassen, dass der Sozialstaat unter dem Druck der Krise von Marktradikalen ganz an die Wand gefahren wird. Die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen beinhalten sowohl positive, von uns schon lange geforderte Schritte, als auch negative, von uns schon bei der Verabschiedung kritisch gesehene Punkte. Heute können wir nicht umhin festzustellen, dass der Abstand zwischen unseren Zielen und der sozialen Realität, verstärkt noch durch neue Entscheidungen der Großen Koalition, in einem eklatanten Maße gewachsen ist. Wir wollen deshalb unsere Position neu bestimmen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfolgen eine Politik, die auf die veränderten Bedingungen des modernen Sozialstaates zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mit Abbau, sondern mit Erneuerung aller seiner mehr denn je notwendigen Schutz- und Hilfesysteme zur Gewährleistung gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Teilhabe reagiert. 1 Dieser Hauptteil des Berichts wurde in der Kommission mit 19 Ja-Stimmen und einer Enthaltung angenommen 2 Hartz IV Wir Grüne haben die Hartz-Reformen, die als Ergebnis eines durch die Bundesratsmehrheit der Konservativen und der damaligen Opposition bewirkten Kompromisses zustande kamen, mitgetragen. Wir haben aber auch unsere Kritik an bestimmten Punkten immer deutlich gemacht. Richtig war die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, richtig die Einbeziehung der ehemaligen SozialhilfeempfängerInnen in die Arbeitsmarktförderung, richtig der Ansatz der fachübergreifenden Hilfe, des Fallmanagements. Bis dahin verdeckte Armut wurde sichtbarer. Richtig war, dass Maßnahmen tatsächlich dazu beitrugen, die Beschäftigungswirksamkeit des Wachstums zu erhöhen. Doch dies war verbunden mit Entscheidungen, gegen die wir uns in den Verhandlungen massiv wehrten und die sich seither tatsächlich als sozialpolitisch fatal erwiesen: die Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen etwa, der zu geringe Schutz privater Altersvorsorge, die zu niedrigen Zuverdienstgrenzen, die vollständige Anrechnung von Partnereinkommen. Noch wirkmächtiger als falsche Regelungen war, dass bei Hartz die versprochene Balance zwischen Fordern und Fördern nie zustande kam, es gab keine Förderung auf gleicher Augenhöhe. Das System ist auf Kontrolle statt auf Ermutigung zur Eigenverantwortung ausgerichtet. Die Zielbestimmung des Gesetzes gab der Verantwortung der Betroffenen mehr Gewicht als der makroökonomischen Verantwortung des Staates. Unter dieser Perspektive wurden zahlreiche Regelungen des Gesetzes in der Praxis zu Anlässen bürokratischer Schikane. Die „Würde der Langzeitarbeitslosen“ wurde dadurch höchst antastbar und die „Chancen zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten“ oft ziemlich theoretisch. Auch die Höhe der Absicherung hat sich längst als ungenügend erwiesen. Es ist, konkret gesagt, nicht möglich, ein Kind von 2,50 Euro am Tag gesund zu ernähren. Dass Hartz-Kinder in Ganztagesschulen beim Mittagsessen im Nebenraum warten müssen, weil sie es nicht bezahlen können, ist ein empörender Skandal, aber kein Einzelfall. Das höchste Armutsrisiko tragen Familien mit Kindern – und es ist gewachsen. Nach unterschiedlichen Berechnungen müsste der Regelsatz für Erwachsene in einem Korridor zwischen 390 und 460 Euro liegen. Wir orientieren uns an dem vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) genannten Satz von 420 Euro. Ein großes sozialpolitisches Problem ist die häufige Unterdeckung der Kosten der Unterkunft, wodurch die Not vieler Hilfeberechtigter verschärft wird. Die Wohnkosten sind deshalb künftig nach einem transparenten Verfahren zu übernehmen, das sich an einem aktuellen örtlichen Mietspiegel und an der tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnraum orientiert. Für Grüne kann es sozial- und arbeitsmarktpolitisch insgesamt kein „Weiter so“ geben. Es braucht einen neuen Aufbruch. Einen Aufbruch zu einem ermutigenden Sozialstaat. Neuer Aufbruch Für diesen Aufbruch stellen sich uns vor allem drei Kernfragen: Was muss anders werden, um die Würde des Menschen auch für Langzeiterwerbslose zu sichern? Welches Transferniveau ist zur Sicherung des sozio-ökonomischen Existenzminimums notwendig? Wie kann durch Zugänge zu den zentralen gesellschaftlichen Gütern Arbeit, Bildung, Gesundheit und demokratische Teilhabe der Ausweg aus Armut ermöglicht werden? Nur wenn diese Fragen überzeugend beantwortet werden, kann es gelingen, der sich ausbreitenden Abstiegsangst entgegenzuwirken und die tatsächliche Unsicherheit und Ungleichheit zu überwinden. Die grüne Diskussion und zum Teil auch die in anderen gesellschaftlichen Bereichen dreht sich zentral um zwei Ansätze: den einer Erneuerung der Perspektive „bedarfsorientierte soziale Grundsicherung“ sowie den eines Systemwechsels zu einem „bedingungslosen Grundeinkommen“. Diese Ansätze haben auch in unserer Kommission im Zentrum gestanden. Dabei haben wir festgestellt, dass uns wesentliche, tragende Übereinstimmungen verbinden, die in den verschiedenen Konzepten unterschiedlich konkretisiert werden. Die gemeinsam getragenen Eckpunkte einer Grünen Existenzsicherung bilden deshalb den Hauptteil unseres Berichtes. 3 Abgrenzung Wie wir uns in den Grundlinien der kritischen Bewertung der Hartz-Realität treffen, so teilen wir auch eine kritische Bewertung verschiedener Konzepte, die unter der Überschrift „Bedingungsloses Grundeinkommen“ oder „Bürgergeld“ Konjunktur haben. Weder das Grundeinkommens- Konzept von Götz Werner noch die Überlegungen von Dieter Althaus entsprechen den Anforderungen, die wir an eine Grüne Existenzsicherung haben. Wir lehnen diejenigen Grundeinkommens-Vorstellungen ab, die darauf hinaus laufen, Erwerbslose quasi durch eine Alimentierung abzufinden, bisherige soziale Sicherungsleistungen dafür gegenzurechnen und sie mit der Verantwortung für die Schaffung gesellschaftlicher Zugänge alleine zu lassen. Wir lehnen Modelle ab, deren Hauptnutzen darin besteht, als Kombilohn-Modelle für jedermann Arbeitgebern die Lohnkosten zu senken. Und wir halten es auch für falsch, durch Radikalisierung von Forderungen nach individuellen Transfers der notwendigen Förderung öffentlicher Dienstleistungen, die auch finanziert werden müssen, den Boden zu entziehen. Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe für alle Zentrales Ziel der Grünen Sozialpolitik und daher auch der Grünen Existenzsicherung ist es die Voraussetzungen für Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Diesem Ziel entspricht auch, dass wir die Sozialversicherungssysteme zu Bürgerversicherungen weiterentwickeln wollen. Die Grüne Existenzsicherung besteht aus zwei gleichberechtigten, sich ergänzenden Komponenten: Aus der „Existenzsicherung“ auf der einen und der „Teilhabegarantie“ auf der anderen Seite. Denn Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung bestehen nicht allein im Mangel an Geld, sondern auch im eingeschränkten Zugang zur Bildung und anderen Gemeinschaftsgütern und in der Verweigerung des Zugangs zum Erwerbsarbeitsmarkt. Wir brauchen beides: Existenzsichernde Transferleistungen und den diskriminierungsfreien Zugang zu sozialen und kulturellen Angeboten, zu Räumen der Befähigung und der Bildung. Nur so lassen sich Armutslebenslagen nachhaltig überwinden. Jede Reduzierung des Sozialstaates auf eine der beiden Seiten muss dagegen scheitern. Wir wollen auch nicht hinnehmen, dass Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus und ihre Kinder vom Zugang zu Bildung und Gesundheitsleistungen ausgeschlossen sind. Durch angemessene Finanzausstattung einnahmeschwacher Kommunen seitens der Länder müssen sie in die Lage versetzt werden, den Zugang zu öffentlichen Gütern wie Kindergartenund Schulessen, Sozialtickets für den ÖPNV sowie angemessene Ermäßigungen bzw. Freistellung von Gebühren für Bildungs- und Kultureinrichtung, die derzeit als rein kommunale, freiwillige Leistung gestaltet sind, zu gewährleisten. Beim Vergleich unseres Sozialstaates mit skandinavischen Modellen zeigt sich, dass bei uns weniger soziale Gerechtigkeit zu finden ist, obwohl wir zum Teil einen größeren Anteil unseres BIP für den Sozialstaat ausgeben. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass bei uns der Fokus auf entsprechende öffentliche Infrastruktur unterentwickelt ist. Das fängt bereits bei der Kinderbetreuung an. Der Nachholbedarf, den wir bei entsprechenden öffentlichen Ausgaben haben, beläuft sich nach unseren Berechnungen auf ca. 60 Milliarden Euro. Grüne Existenzsicherung gibt dieser Aufgabe hohe Priorität. Die Würde ist kein Konjunktiv Wachsende Verunsicherung und Angst vor sozialem Abstieg reichen tief bis in die Mitte der Gesellschaft. Dies gilt noch verstärkt in Gegenden mit dauerhaft hoher Erwerbslosigkeit. Deshalb müssen Staat und Gesellschaft eine klare Botschaft an jede und jeden senden: „Wir können und wollen auf keine und keinen verzichten, jeder und jede wird gebraucht! Wir werden allen ein Leben in Würde ermöglichen!“ 4 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, brauchen wir ein solidarisches Sicherungsnetz. Jeder Mensch muss sich darauf verlassen können, dass ihm im Bedarfsfall geholfen wird: schnell, unbürokratisch und existenzsichernd. Die Garantie einer ausreichenden materiellen Existenzsicherung ist eine Voraussetzung für Identifikation mit und Vertrauen in die Gesellschaft. Diese Anforderung erfüllt die derzeitige Grundsicherung bei weitem nicht. Hinzu muss aber die Überzeugung kommen, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu haben, seine eigenen Potentiale in die Gemeinschaft einbringen zu können und soziale Aufstiegsmöglichkeiten zu haben. Auch das ist derzeit nicht gegeben. Zugänge zu gesellschaftlichen Ressourcen müssen so gestaltet sein, dass sie bei den Individuen und ihren Fähigkeiten ansetzen, dass sie die Entwicklung selbstbestimmter Menschen unterstützen und deren individuellen Bedürfnisse ernst nehmen und berücksichtigen. Nur wer Menschen zutraut, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und ihnen die notwendigen Möglichkeiten und Freiheiten lässt, schafft Potenziale und Räume für Kreativität und Wahrnehmung von Teilhabechancen. Es entspricht durchaus unserer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, dass Menschen, die dazu in der Lage sind, für erhaltene solidarische Unterstützung durch individuelle Transfers auch aktiv zum Wohle der Gesellschaft beitragen. Die Erwartung einer solchen „Gegenleistung“ darf aber nicht zum Ausgangspunkt werden für bürokratische Zumutungen, bei denen am Ende die Würde der Betroffenen auf der Strecke bleibt. Es muss das Wahl- und Wunschrecht der Betroffenen berücksichtigt werden. Es ist unsinnig, von jemand mit Androhung von Sanktionen die dritte Maler-Fortbildung zu verlangen, wenn die ersten zwei schon nicht weiterhalfen. Es kann nicht richtig sein zu fordern, dass jemand nachweist, ob er dem ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, wenn der ihm gar kein Angebot machen kann. Es ist unakzeptabel, dass junge Menschen unter 25 Jahren gezwungen werden sollen bei ihren Eltern zu leben, wenn sie volle Unterstützung bekommen wollen. Bekämpfung von Armut Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die materielle Armut nimmt zu. Die Zahl der armen Menschen - vor allen Dingen armer Kinder – wächst. Armut wird von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die Grüne Existenzsicherung garantiert das soziokulturelle Existenzminimum und lindert damit bereits entstandene Notlagen. Um Armut aber dauerhaft zu überwinden müssen die Transferzahlungen und Vorkehrungen zur Sicherung der Teilhabe eng ineinandergreifen. Neben finanziellen Leistungen werden deshalb bessere und zusätzliche Zugänge zu Bildung, zu Hilfeleistungen und Unterstützung und zu Arbeit benötigt. Die Zugänge müssen so gestaltet sein, dass sie jedem Menschen unabhängig von Herkunft, sozialem Umfeld und finanziellen Möglichkeiten offen stehen und tatsächlich auch in Anspruch genommen werden können. Verdeckte Armut aus Scham oder Unkenntnis darf es zukünftig nicht mehr geben. Wir werden nicht akzeptieren, dass Kinder immer noch ein Armutsrisiko sind und ein hohes Armutsrisiko haben. Es darf nicht sein, dass Familien nur weil sie Kinder haben Gefahr laufen, in Armut zu geraten. Gerade weil Kinder die abhängigsten Mitglieder unserer Gesellschaft sind, muss die Solidargemeinschaft ein besonderes Augenmerk auf ihr Wohl legen. Dies beginnt mit ihrer ausreichenden materiellen Absicherung. Kinder sind keine abgeleiteten Erwachsenen, sondern haben eigenständige Bedürfnisse, die auch eigenständig ermittelt und angemessen berücksichtigt werden müssen. Deshalb setzen wir uns für eine generelle Kinderexistenzsicherung ein, die Stück für Stück verwirklicht werden muss. Eingeschränkte Bildungs- und Teilhabechancen einer immer größer werdenden Zahl von Kindern sind nicht nur eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Betroffenen, sondern auch eine 5 volkswirtschaftliche Fehlleistung erster Güte. Eine Wissensgesellschaft kann es sich nicht leisten 20-30% eines Jahrgangs mit einem schlechtem oder auch ganz ohne Schulabschluss aus dem Bildungssystem zu entlassen. Alle Kinder und Jugendlichen brauchen eine faire Chance ihre Potentiale optimal zu entwickeln. Das ist gut für die Kinder und Jugendlichen, das ist aber auch gut für das Gemeinwesen. Angesichts der demografischen und sozialen Entwicklung und der bestehenden Defizite in der Altersvorsorge wird in Zukunft das Risiko persönlicher Altersarmut zunehmen. Unsere bündnisgrüne Perspektive angesichts dieser Herausforderung ist eine Bürgerversicherung. Mindestlohn Im Westen Deutschlands sind nur noch die Hälfte der Betriebe tariflich gebunden, im Osten weniger als ein Viertel. Unter diesen Bedingungen können Gewerkschaften nicht mehr alleine faire Mindestarbeitsbedingungen sichern. Mehr und mehr sind Menschen, die voll beschäftigt sind, gezwungen, als sogenannte AufstockerInnen bei der Arbeitsverwaltung zusätzliche Transferleistungen zu beantragen, weil ihr Verdienst zur Existenzsicherung nicht reicht. Deshalb wollen wir Mindestlohnregelungen durchsetzen, die es in den meisten Ländern Europas bereits gibt. Branchenspezifische Mindestlöhne, ob über das Entsendegesetz oder über ein reformiertes Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen sind sinnvoll. Aber es braucht auch eine allgemein wirkende Mindestlohnschranke gegen Lohndrückerei. Alle Erwerbstätigen müssen daher von einer gesetzlich einzurichtenden Mindestlohnkommission verbindlich gegen Lohndumping geschützt werden. Geschlechtergerechtigkeit Die Grüne Existenzsicherung ist geschlechtergerecht auszugestalten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN stehen für den eigenständigen Rechtsanspruch aller Menschen auf soziale Absicherung und grundsätzliche individuelle Ansprüche auf Leistungen. Dieser Individualisierung steht im Gegenzug der Abbau von Privilegien im Steuersystem und in den Sozialversicherungen gegenüber, die an die Ehe gebunden sind. Ehegattensplitting, die Steuerklassen 3 bis 5 und bestimmte Regelungen in der Renten- und Krankenversicherung zielen noch immer auf ein überholtes „Alleinernährer-Modell“ und befördern die Nicht- oder Teilerwerbstätigkeit vor allem von Frauen. In Folge treten häufig nicht existenzsichernde Einkommen und Renten sowie dauerhafte Abhängigkeit vom Partner oder vom Staat ein. Der Zugang zur aktiven Arbeitsmarktförderung muss insbesondere Frauen, auch wenn sie lange zu Hause waren oder aufgrund der Partnereinkommen aus dem ALG-II Bezug fallen, offen stehen, um ihnen den Einstieg in existenzsichernde Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Auch der zügige Ausbau der Kinderbetreuung und von Ganztagsschulen ist nicht nur aus bildungspolitischer, sondern auch aus Gleichstellungssicht von entscheidender Bedeutung. Er ist ein wichtiger Beitrag für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer. Modelle, die dazu beitragen, dass Pflege- und/oder Betreuungsarbeit – in der Regel zu Lasten von Frauen - weiter individualisiert werden, sind nicht geschlechtergerecht und angesichts des demographischen Wandels auch nicht zukunftsfest. Nötig ist im Gegenteil eine Professionalisierung und Humanisierung der Pflege. Mit dem Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur in diesem Sektor - wie in den skandinavischen Ländern – entsteht nicht nur zusätzliche Beschäftigung sondern Betreuung und Pflege kann auch so organisiert werden, dass sie nicht mit der Erwerbstätigkeit der Pflegenden kollidiert. 6 Bildung verbessern Bildung ist die entscheidende Ressource, um die Herausforderungen einer von schnellen Umbrüchen begleiteten globalisierten Welt bewältigen zu können. Um diesen Herausforderungen begegnen zu können, müssen die Voraussetzungen für ein Bildungssystem geschaffen werden, das die Zuteilung und Verhinderung von Lebenschancen durch die frühe Sortierung von Kindern auf unterschiedliche Bildungsgänge verhindert. Die Frage der Bildungschancen und der Bildungsqualität in Deutschland steht daher im Zentrum Grüner Politik für soziale Gerechtigkeit und des Modells der Grünen Existenzsicherung. Das Bildungssystem muss sozial bedingte Defizite ausgleichen. Die Weichen für die Entfaltung der Persönlichkeit und gesellschaftliche Teilhabe werden sehr früh gestellt. Deswegen sind der Ausbau und die qualitative Verbesserung der elementaren Bildung in Kinderkrippen und Kindertagesstätten nicht nur eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eine pädagogisch anspruchsvolle Betreuung und Förderung bereits im Vorschulbereich ist ein wesentlicher Beitrag dazu, Armutskarrieren, wie sie in manchen Familien in der Sozialhilfe über Generationen durchlitten wurden, zu durchbrechen oder auch im Entstehen zu verhindern. Schon in Kindergarten und Schule muss die Stärkung des Individuums im Vordergrund jedes Bildungsansatzes stehen: Beteiligungsangebote in Kindergärten und Schulen, Förderung gemeinschaftlicher Selbsthilfe, Förderung echter Selbstständigkeit, Investitionen in die soziale und kulturelle Infrastruktur benachteiligter Stadtteile – das sind einige Schlüsselelemente einer Bildungspolitik, die nicht auf die bloße An- und Einpassung der heute Außenstehenden, sondern auf ihre wirkliche gesellschaftliche Teilhabe zielt. Ziel ist es, dadurch jeden Menschen zu befähigen, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten zu können. Neben und zusätzlich zur umfassende Neuausrichtung elementarer Bildung, Betreuung und Erziehung braucht es eine konsequente Neuorientierung der Schulentwicklung. Wir orientieren uns am Leitbild der individuellen Förderung aller Kinder durch Überwindung der Dreigliedrigkeit entsprechend finnischem Vorbild. Dies eröffnet allen Kindern den Zugang zu Schulen unterschiedlicher pädagogischer Konzepte. Es sind Strukturen erforderlich, die allen Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung und jungen Menschen vermehrt den Zugang zur Hochschule ermöglichen. Bildungszugänge dürfen nicht, wie dies in Deutschland stark der Fall ist, vom Einkommens- und Bildungshintergrund der Eltern abhängig sein. Die Einsicht in die Notwendigkeit regelmäßiger Fort- und Weiterbildung ist in Deutschland insgesamt deutlich unterentwickelt. Sowohl in den staatlichen Institutionen, in den Unternehmen wie bei den Bürgerinnen und Bürgern muss ein umfassendes und ganzheitliches Verständnis der Notwendigkeit von Lernen und Bildung, das lebensphasen-übergreifend ist, entwickelt werden. Arbeit Unsere Erwerbsgesellschaft verändert sich. Zeitarbeit, Teilzeit, befristete Arbeitsverträge, Mini- Jobs und andere prekäre Arbeitsverhältnisse treten immer stärker neben das traditionelle Normalarbeitsverhältnis. Die Erwerbsbiografien sind vielfältiger, aber auch unsteter und unberechenbarer geworden. Eine wachsende Zahl von Menschen hat trotz Arbeit kein existenzsicherndes Einkommen mehr. Offensichtlich gelingt es in Deutschland erheblich schlechter als in den skandinavischen Ländern, diesen Wandel sozial verträglich zu begleiten. Skandinavien erreicht eine höhere Beschäftigungsquote, gerade in sozialen und anderen zukunftsfähigen Sektoren. Es fehlen nicht nur Rahmenbedingungen, um Erwerbsarbeit existenzsichernd zu gestalten und um neue Beschäftigungschancen zum Beispiel im Dienstleistungsbereich zu nutzen, sondern auch soziale Sicherungssysteme, die den geänderten Herausforderungen gerecht werden. 7 Durch die verfestigte Sockelarbeitslosigkeit droht eine dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in die »Produktiven« und die »Überflüssigen«. Diese Entwicklung ist für die Betroffenen nicht nur ökonomisch problematisch. Ebenso folgenreich ist das Fehlen gesellschaftlicher Anerkennung und damit verbunden die Erfahrung, am Produktionsprozess gesellschaftlicher Wohlfahrt nicht mehr beteiligt zu sein. Diese Bewusstseinslage kann nur zum Teil und nicht für alle gleichermaßen durch eine andere Tätigkeit als Erwerbsarbeit ausgeglichen werden. Da aber Arbeit eben auch mehr ist als Erwerbsarbeit, sind Wege zu fördern, die auf andere Weise die Teilhabe an der gesellschaftlich nützlichen Arbeit ermöglichen. Die Integration in den Arbeitsmarkt – vor allem in den ersten Arbeitsmarkt - hat weiterhin einen hohen Stellenwert. Die aktive Arbeitsmarktpolitik muss ausgebaut werden, denn ohne gezielte Förderung bleiben viele Erwerbslose dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Neben individueller Beratung sind Weiterbildungs-, Umschulungs- und Qualifizierungsangebote sowie Förderprogramme zur Existenzgründung notwendig, um Wege in die Arbeitswelt zu eröffnen. Arbeitsmarktpolitische Standardmaßnahmen, die keinerlei Rücksicht auf Begabung oder Biographie der betroffenen Personen nehmen, sind dafür nicht geeignet, denn Unterstützungsangebote müssen zu den Erwerbslosen passen - nicht umgekehrt. Auch für Erwerbslose, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben, sind spezifische Angebote zu entwickeln. Für sie ist die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes notwendig, der verlässlich funktioniert, ohne den Weg in den ersten Arbeitsmarkt zu verbauen. Junge Menschen brauchen Perspektiven. Für sie ist eine Ausbildung immer noch die beste Voraussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Darum braucht jeder junge Mensch unabhängig von seinen individuellen Fähigkeiten und seiner sozialen Stellung ein Angebot für Ausbildung. Dafür tragen Unternehmen und Staat die Verantwortung. Dabei muss das duale System gestärkt werden. Im öffentlichen Bereich sind milliardenteure Warteschleifen, in denen viele Jugendliche demotiviert und perspektivlos zurückbleiben, nicht akzeptabel. Alternativangebote wie zum Beispiel Produktionsschulen, die zuverlässig den Einstieg in eine eigenverantwortliche Erwerbskarriere erlauben, sind auszubauen. Alternativen Seit längerem wird sowohl bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie auch in der Gesamtgesellschaft intensiv um die Frage gestritten, wie der ermutigende Sozialstaat der Zukunft aussehen soll. Klar ist: die neoliberale Hegemonie ist gebrochen. Selbst die Konservativen stellen derzeit trotz großer programmatischer Kontinuität nicht die marktradikalen Forderungen in ihr Schaufenster, mit denen sie noch den Bundestagswahlkampf 2005 bestritten. Den Meinungsumschwung, der sich darin spiegelt, wollen Grüne nutzen für Reformen, die diesen Namen verdienen, weil sie sich den aktuellen Herausforderungen der Sozialpolitik stellen. Globalisierung, Individualisierung, neue soziale Spaltung, demographischer Wandel und Migration, das sind die großen aktuellen Herausforderungen. Sie zu meistern und dabei Verteilungsgerechtigkeit wie Chancengerechtigkeit zugleich im Auge zu behalten, darin muss der Sozialstaat seine Leistungsfähigkeit beweisen. „Er muss modernisiert werden, um seine integrative Kraft zu bewahren und um einen sozialen Ausgleich und Chancengleichheit für alle nicht dem freien Markt zu überlassen.“ (Grundsatzprogramm) Diese Modernisierung des Sozialstaates setzt voraus, dass für die sozialen Ausgaben genügende Einnahmequellen erschlossen und dazu Privilegien abgebaut werden. Dafür werden wir eintreten und breite Bündnisse in der Gesellschaft suchen. Zur Konkretisierung der hier dargelegten Ziele und Eckpunkte gibt es bei uns in Teilen unterschiedliche Vorstellungen. Wir verstehen diese als Vorschläge zur Umsetzung unserer gemeinsamen Grünen Grundsätze. Die Partei soll beim anstehenden Bundesparteitag in Nürnberg über diese Vorschläge entscheiden. 8 Die Grüne Grundsicherung – Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit2 I. Die Grüne Grundsicherung: ermöglicht Teilhabe – schafft Arbeit – überwindet Armut Die soziale Herausforderung ist enorm. Die Folgen der Globalisierung, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, sinkende Bildungschancen für wachsende Teile der Bevölkerung, steigende Kinder- und Altersarmut und die Risiken des demografischen Wandels drohen die Spaltung in unserer Gesellschaft zu vertiefen. Rasanter als je zuvor wächst die Kluft zwischen den Menschen, die Arbeit haben, und jenen, die den Anschluss verlieren – oder nie den Zugang finden konnten. An vielen zieht der Aufschwung vorbei. Die Wohlstands- und Aufstiegsversprechen vergangener Jahrzehnte sind leer und hohl geworden. Die Angst vor dem sozialen Abstieg reicht bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Es droht die dauerhafte Spaltung in Gewinner und Verlierer: die Spaltung des Landes in jene, die „produktiv“ sind und einer Erwerbsarbeit nachgehen und jene, die sich überflüssig fühlen und von der Gesellschaft nicht gebraucht. Neuer Aufbruch – gegen die Spaltung der Gesellschaft Die Grüne Grundsicherung bietet eine Antwort auf diese Herausforderungen. Unser Modell der Grundsicherung besteht aus zwei Elementen, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen: • einer Existenzsicherung, die Armut tatsächlich verhindert, und • der Garantie auf Teilhabe – durch Zugang zu Arbeit sowie zu den öffentlichen Gemeinschaftsgütern in den Bereichen Bildung, Betreuung, Gesundheit und Mobilität. Auf die sozialen Herausforderungen dieser Zeit reagiert die Grüne Grundsicherung mit zentralen Werten unserer Partei: Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für einen neuen Aufbruch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Zusätzlich zur Verteilungspolitik geht es uns um einen Aufbruch im Zeichen von Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen und beim Zugang zu gesellschaftlichen Gütern. Und für einen Aufbruch im Zeichen der Selbstbestimmung, die ein ermutigender Sozialstaat erst für alle möglich macht. Denn nur eine emanzipatorische Sozialpolitik gewährleistet nachhaltige soziale Sicherheit. Die Gesellschaft kann nicht auf die Kompetenzen und Potenziale ihrer Bürgerinnen und Bürger verzichten. Sie darf niemanden aufs Abstellgleis schieben. Soziale Absicherung muss so organisiert sein, dass sie die Voraussetzung einer selbst bestimmten Lebensführung unterstützt und nicht behindert. Wir Grüne machen uns vor allem für die Schwächsten der Gesellschaft stark. Denn wie gerecht und lebenswert eine Gesellschaft wirklich ist, zeigt sich auch daran, wie sie mit jenen umgeht, die nicht Teil der “Mehrheitsgesellschaft“ sind. Grüne Sozialpolitik folgt dem Leitbild umfassender Gerechtigkeit. Dazu gehört es, allen Menschen Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesundheit und demokratischer Mitbestimmung zu eröffnen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel zu wenig in den Ausbau von Bildungs-, Kultur- und Sozialeinrichtungen investiert, vielen blieb der Zugang dazu verwehrt. Die Zahl der Schulabbrecher, Ungelernten und Geringqualifizierten schnellte dadurch in die Höhe, und die soziale Ausgrenzung verstärkte sich. Denn ohne den Zugang zu Bildung, Kultur und Betreuung bleibt den Schwächsten der Gesellschaft die individuelle Gestaltungsmacht über das eigene Leben versagt. 2 Dieser Teil des Berichts wird unterstützt von: Astrid Rothe-Beinlich, Brigitte Pothmer, Daniela Schneckenburger, Jürgen Borchert, Katrin Göring-Eckardt, Markus Kurth, Reinhard Bütikofer, Sven Giegold, Tarek Al-Wazir, Theresa Schopper 9 Regelsatz anheben – Existenz sichern Armut grenzt aus und zeigt sich besonders im Mangel an Bargeld und Vermögen. Der derzeitige Regelsatz des Arbeitslosengelds II deckt das soziokulturelle Existenzminimum nicht ab. Um Armut zu verhindern, muss der Regelsatz deutlich angehoben werden – wir übernehmen die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und gehen von einem Betrag von 420 Euro im Monat aus. Auch wenn die Hartz-Reformen sinnvolle und gute Ansätze enthalten, so ist ihre praktische Umsetzung doch mit einer tieferen Spaltung der Gesellschaft einhergegangen. Die versprochene Balance zwischen Fordern und Fördern wurde nicht eingehalten. Die Fördermaßnahmen waren in ihrer Ausgestaltung unzureichend oder fanden teilweise gar nicht statt, und das Fordern hatte nicht selten entwürdigenden Charakter. Die Idee des Förderns muss im Sinne eines befähigenden Sozialstaats institutionell gestärkt werden. Eine gesicherte Existenz ist die Voraussetzung für jede Teilhabe. Ursachen der Armut bekämpfen Armut ist aber auch der Mangel an Möglichkeiten, eigene Talente und eigenes Können zu entwickeln und einzusetzen. Ein echter Aufbruch kann in der Sozialpolitik nur gelingen, wenn wir die Gemeinschaftsgüter und die öffentliche Infrastruktur grundlegend ausbauen. Wenn wir die Ursachen der Armut bekämpfen wollen, müssen wir den Zugang zu Bildung, unterstützenden Strukturen und Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Als Vorbild dient das Erfolgsmodell der skandinavischen Länder. Sie verbinden die hohen Investitionen in Gemeinschaftsgüter, öffentliche Infrastruktur und Hilfesysteme mit der Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Mitarbeit. Damit belegen sie eindrucksvoll, dass die These vom Ende der Erwerbsarbeit falsch ist. Und sie beweisen, dass wir den Wandel in der Arbeitsgesellschaft gestalten – und gleichzeitig hohe soziale Standards einhalten können. Selbstbestimmung ermöglichen – Türen öffnen Ein moderner und ermutigender Sozialstaat wartet nicht bis der „Versicherungsfall“ eintritt, um dann erst zu helfen. Seine Leistungsstärke zeigt sich an der Konsequenz und an der Kreativität, mit der er seinen BürgerInnen ermöglicht, selbst bestimmt zu leben. Der ermutigende Sozialstaat investiert in die Bildung aller Kinder und öffnet somit allen die Tür zur Welt. Er verwandelt die Schwächen der Migrantinnen und Migranten in Stärken, indem er die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum fördert. Er qualifiziert und unterstützt gerade die Schwächsten der Gesellschaft. Der Mensch ist ein soziales und politisches Wesen und nicht bloß der in Gewinnen und Verlusten denkende homo oeconomicus. Er ist auf die Anerkennung und Unterstützung anderer und der Gesellschaft angewiesen. Das soziale Netz ist aber nicht aus Euros gewebt. Wer Menschen bei der Entfaltung ihrer Potenziale unterstützen will, muss ihnen mehr anbieten als bloße Geldtransfers. Diese allein reichen nicht für neue Lebensentwürfe, denn das Gefühl, gebraucht zu werden, lässt sich nicht einfach auf dem freien Markt erwerben. Die Grüne Grundsicherung besteht deshalb nicht nur aus reiner Existenzsicherung. Eine wirkliche Existenzsicherung – und damit ein erhöhter Regelsatz – ist eine unabdingbare Voraussetzung für Teilhabe. Doch die Grüne Grundsicherung beinhaltet eine viel weiter gefasste Teilhabegarantie für alle in der Gesellschaft. Mit dieser Teilhabegarantie wollen wir die Entstehung von Armut verhindern und mehr Gerechtigkeit schaffen. Entscheidend für den sozialstaatlichen Aufbruch sind Investitionen in die Gemeinschaftsgüter, zu denen alle Zugang erhalten müssen. Unser Ziel ist es, ein vitales Gemeinwesen zu ermöglichen, das nicht ein Drittel der Gesellschaft ausgrenzt. Jede und jeder soll die eigenen Fähigkeiten optimal entwickeln und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen können - das ist die Priorität unserer sozialstaatlichen Anstrengungen. 10 Teilhabe garantieren – Hilfen vernetzen Die Grüne Grundsicherung will den Menschen Gestaltungsmacht über ihr Leben geben. Konkret: Die Teilhabegarantie, die wir brauchen, umfasst den Zugang zu fördernden Institutionen und Instrumenten, den rechtlich verbindlichen Zugang zu Gemeinschaftsgütern und sozialen und kulturellen Angeboten, zu Orten und Räumen der Befähigung und Bildung. Der Aufbau solcher Strukturen setzt eine bessere Vernetzung von staatlicher, professioneller, familiärer und bürgerschaftlicher Unterstützung voraus – einen welfare mix als neues sozialpolitisches Miteinander. Ein befähigender Sozialstaat sucht deshalb gemeinsam und auf Augenhöhe mit den Betroffenen nach Wegen zu mehr Teilhabe, die wo immer möglich auch Wege aus der Alimentierung sind. Dem Sozialstaat verleiht das neue Flexibilität, weil es zu seinem zentralen Ziel wird, der Vielfalt der Lebenslagen, Lebenschancen, Bedürfnisse und Einkommensverhältnisse gerecht zu werden. Prinzip Gegenseitigkeit Nicht gebraucht zu werden, keinen Beitrag für eine funktionierende Gesellschaft leisten zu können – das sind die niederschmetternden Signale für jene, die sich angeblich oder tatsächlich in einer dauerhaften Alimentierung einrichten. Die Grüne Grundsicherung fußt auf dem Prinzip Gegenseitigkeit. Unter Gerechtigkeit verstehen wir ein wechselseitiges Verhältnis, in dem BürgerInnen durch die Solidargemeinschaft füreinander eintreten. Ein gelingendes und vielfältiges Gemeinwesen ist auf die Partizipation seiner Mitglieder angewiesen. Deshalb heißt Gegenseitigkeit natürlich auch, dass die Gesellschaft vom Einzelnen soziales Engagement entsprechend seiner individuellen Fähigkeiten erwarten darf und auch die Bereitschaft fordern kann, im Rahmen seiner Wünsche und Fähigkeiten etwas zur Gesellschaft beizutragen. Grundeinkommen? Den Staat nicht aus der Verantwortung entlassen Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das eine breit angelegte Alimentierung ohne Gegenleistungen verspricht, unterstützt die Tendenz zum Abbau öffentlicher Infrastruktur. Es besteht die Gefahr, dass der Staat sich aus der Verantwortung die Teilhabe aller zu gewährleisten zurückzieht – und stattdessen auf die Verantwortung der Individuen verweist. Ein Staat, der sich vor allem auf die groß angelegte Umverteilung von Geld konzentriert, wird kaum Ressourcen haben, die Selbstbestimmung und Teilhabe seiner BürgerInnen zu befördern. Der Aufbau einer umfassenden Bildungs-, Vorsorge- und Befähigungsstruktur kommt damit zwangsläufig zu kurz, denn auch hierfür sind zusätzliche Mittel von rund 60 Milliarden Euro notwendig. Wenn wir aber Armut nicht nur lindern, sondern zukünftig auch vermeiden wollen, haben Investitionen in gute Infrastruktur und öffentliche Angebote für Kinder und Erwachsene höchste Priorität. Grundeinkommensmodelle federn lediglich die Ungerechtigkeit einer gespaltenen Gesellschaft ab, aber sie beseitigen nicht deren Ursachen. Die dauerhafte und bedingungslose Alimentierung von Menschen kann für einen politischen und gesellschaftlichen Ablasshandel missbraucht werden, der schnell zur organisierten Ruhigstellung ganzer Bevölkerungsgruppen führt. Das sind Schwachstellen aller Grundeinkommenskonzepte, die die Grüne Grundsicherung vermeidet. Sie bekennt sich zur Verantwortung der Gesellschaft, wenn es darum geht, das soziale Leben gerecht zu gestalten. Jeder Mensch ist anders – Unterstützung individuell gestalten Gerade in einer Zeit, in der die Individualisierung der Lebensverhältnisse nicht mehr zu übersehen ist, kann es nicht eine Antwort für alle geben. Jeder Mensch hat eigene Lebensumstände, eigene Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten, Stärken, aber auch Schwächen – und benötigt deshalb individuelle Unterstützung. Das Konzept der Grünen Existenzsicherung berücksichtigt diese Individualität, denn für die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe, der Existenz, für den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben, für ein selbst bestimmtes Leben gibt es kein Patentrezept, das für alle richtig ist. 11 Freiheit von staatlicher Einmischung und Bevormundung sowie ein einfacher, unbürokratischer Zugang zu finanzieller Unterstützung ist für manche das richtige Angebot. Andere jedoch benötigen eine engagierte Unterstützung und Motivation sowie individuelle Hilfsangebote, um ihre Chancen entwickeln und ergreifen zu können. Ein gut ausgebildeter arbeitsloser Akademiker braucht andere Hilfen als ein ungelernter Langzeitarbeitsloser. Eine Mutter aus der Mittelschicht, die nach einem beruflichem Wiedereinstieg sucht, braucht wiederum eine andere Unterstützung als die Zwanzigjährige mit zwei Kindern, die keinen Berufsabschluss hat. Die Vielfalt der Probleme erfordert eine Vielzahl von Lösungsansätzen. Für individuelle Lebenslagen gibt es keine genormten Konzepte. Jeder Mensch ist anders. Nach diesem Grundsatz funktioniert die Grüne Grundsicherung. Sie garantiert, bei allen unterschiedlichen Bedürfnissen, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – auf drei Ebenen: durch den Zugang zu Arbeit, durch den Zugang zu Bildung und Gemeinschaftsgüter und durch eine gesicherte Existenz. II. Die Grüne Grundsicherung gewährleistet Teilhabe 1. Erwerbsarbeit – der Schlüssel zur Teilhabe Der Zugang zu Erwerbsarbeit ist unverzichtbar für die eigenständige Existenzsicherung. Arbeit ist und bleibt der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung sowie für die Einbindung in soziale Zusammenhänge. Sie ist zugleich die Quelle für Selbstsicherheit und Selbstbestätigung. Für die allermeisten Menschen ist es eine Frage der Würde, sich den Lebensunterhalt eigenständig zu verdienen. Deshalb bleibt es eine wesentliche Aufgabe für sozial gerechte Politik, allen den Zugang zu Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Wir teilen die These vom Ende der Erwerbsarbeit nicht. Deshalb entlassen wir die Gesellschaft und vor allem die Politik nicht aus ihrer Verantwortung, Erwerbsarbeit für möglichst alle zu schaffen. Die Anstrengungen, die jetzt vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzten zu integrieren, dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden. Viele unserer Nachbarländer zeigen, dass dies möglich ist. Mit der Einführung von Mindestlöhnen, unserem Progressiv-Modell zur Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich und besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten wollen wir die Rahmenbedingungen für existenzsichernde Arbeit verbessern. Denn Erwerbsarbeit schafft die Voraussetzung dafür, das Leben unabhängig von Transferleistungen zu gestalten. Mindestlöhne gegen Lohndumping Rund 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten für einen Niedriglohn. Die Zahl der Erwerbstätigen, die ergänzend Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, ist inzwischen auf über eine Million Menschen gestiegen; ca. 344.000 davon gehen einer Vollzeitbeschäftigung nach. Armut trotz Arbeit ist für viele Menschen in Deutschland Realität. Diese Menschen haben mehr verdient! Wir fordern Mindestlöhne, auch damit faire Rahmenbedingungen für den Wettbewerb geschaffen werden. Es muss eine allgemeine Mindestlohnschranke geben, unter die niemand fallen darf. Nur so ist eine Entwicklung umzukehren, in der immer mehr Arbeitgeber versuchen, sich auf Kosten der Allgemeinheit vor der Zahlung eines angemessenen Lohns zu drücken und das Arbeitslosengeld II als flächendeckenden Kombilohn missbrauchen. Es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigte mit ihren Steuern die Hungerlöhne in ihren Konkurrenzbetrieben subventionieren. Kleine Arbeitseinkommen entlasten Viele Menschen mit geringen Qualifikationen in einfachen Tätigkeiten können von ihrem Arbeitseinkommen nicht leben. Mitverantwortlich dafür sind die hohen Lohnnebenkosten, die kleine Einkommen überproportional belasten. Für die Krankenversicherung, die Rente und die Arbeitslosenversicherung wird von allen Einkommen der gleiche Prozentsatz abgezogen. Das entspricht einer einheitlichen Flat-Tax mit Beitragsbemessungsgrenze nach oben und ist damit doppelt unsozial. Mit dem grünen Progressivmodell wollen wir die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal absenken, und sie ähnlich wie bei der Steuer langsam progressiv 12 ansteigen lassen. Was bei der Steuer als gerecht empfunden wird – kleine Einkommen: geringe Steuern; große Einkommen: hohe Steuern – soll auch für die Sozialversicherungsbeiträge gelten. Das Prinzip heißt: Je geringer das Einkommen, desto geringer der Beitragssatz. Von der Entlastung profitieren sowohl die ArbeitnehmerInnen als auch die ArbeitgeberInnen. Zur Finanzierung des Progressivmodells brauchen wir rund 6,5 Milliarden Euro im Jahr. Dafür wollen wir einen Teil der Mittel aus der vorhandenen Mehrwertsteuererhöhung verwenden. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit In Deutschland beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern bei gleichwertiger Arbeit auch 50 Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge im Schnitt 26 Prozent. Gerade in der Pflege, aber auch in vielen anderen frauentypischen Berufen ist die Bezahlung so niedrig, dass Frauen sehr häufig zusätzlich Transferleistungen in Anspruch nehmen müssen, obwohl sie Vollzeit arbeiten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern ein Ende dieser gravierenden Lohnunterschiede. Wir stehen für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Neue Arbeitsplätze für Frauen und Männer Das Progressivmodell hat einen weiteren Effekt: es schafft neue Jobs insbesondere im Dienstleistungsbereich. Allein in der Gesundheitsbranche kann bis 2020 mit 600.000 neuen Arbeitsplätzen gerechnet werden. Davon profitieren auch Frauen, die bisher wegen der fehlenden Angebote in diesem Bereich oft auf ihren Job verzichtet haben, weil sie sich um ihre Familie kümmern mussten. Die skandinavische Entwicklung zeigt, dass eine gute öffentliche Infrastruktur nicht nur die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männern fördert, sondern auch für mehr Beschäftigung insbesondere für Frauen sorgt. Schwarzarbeit wird unattraktiver Durch die sinkenden Arbeitskosten haben auch Geringqualifizierte bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Progressiv-Modell lohnen sich einfache Jobs wieder. Auch der Anreiz zur Schwarzarbeit wird erheblich gesenkt, denn der geringere finanzielle Vorteil lässt das Risiko der Illegalität unverhältnismäßig werden. Besser abgesichert Die bisherigen Sonderformen der Mini- und Midi-Jobs werden mit dem Progressivmodell überflüssig. Derzeit schlecht abgesicherte MinijobberInnen werden künftig vollwertige Mitglieder in der Sozialversicherung – mit stark reduzierten Beiträgen. Auch hiervon profitieren insbesondere Frauen. Da die geringeren Sozialbeiträge von der Solidargemeinschaft mit Steuermitteln aufgestockt werden, bleiben die Ansprüche beim Arbeitslosengeld I und in der Rentenversicherung trotz der niedrigeren Beitragssätze für die NutznießerInnen des Progressiv-Modells erhalten. Mehr Zuverdienstmöglichkeiten Ein eigenes Einkommen soll auf die Grundsicherung weniger stark angerechnet werden als beim heutigen Arbeitslosengeld II. Bis zu einem Verdienst von 400 Euro soll jeder zweite Euro anrechnungsfrei bleiben, darüber hinaus soll ein Anteil des Verdienstes bei den EmpfängerInnen verbleiben, der 20 Prozent nicht übersteigt. Damit wollen wir Verbesserungen für kleine Einkommen erreichen und auch zusätzliche Handlungsspielräume für diejenigen eröffnen, die z.B. als Alleinerziehende nicht ohne weiteres in der Lage sind, einen Vollzeitjob auszuüben. Die Hinzuverdienste wirken mit dem Progressiv-Modell zusammen, im Zusammenspiel unterstützen sie gemeinsam die Aufnahme von Erwerbstätigkeit. Mit individueller Hilfe zum neuen Job Es gibt viele Gründe, warum Menschen nur schwer wieder Arbeit finden: fehlende Ausbildung, veraltete Qualifikation, gesundheitlich bedingte berufliche Neuorientierung, Alter, längere Arbeitslosigkeit oder Familienpausen. Der Leitgedanke für die Integration in den Arbeitsmarkt muss deswegen immer heißen: Individuelle Menschen brauchen individuelle Hilfen. 13 Deshalb brauchen wir eine Arbeitsagentur, die nicht nach “Schema F“ handelt, sondern gemeinsam mit den Arbeitsuchenden an Lösungen arbeitet. Statt Arbeitslose zu gängeln und zu bestrafen, müssen ihnen die VermittlerInnen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Nur so können persönliche Potenziale und Interessen gefördert werden. Im besten Falle entsteht so eine Teamatmosphäre, in der Vermittler und Erwerbsloser den gemeinsamen Erfolg suchen. Es gibt bereits gute Erfahrungen mit Jobcentern, in denen dieses Verständnis von Vermittlung umgesetzt wird. Von diesen Erfahrungen sollten wir lernen und profitieren. Zwar bietet das vorhandene arbeitsmarktpolitische Instrumentarium eigentlich die Grundlage für eine maßgeschneiderte individuelle Förderung, und die in Deutschland zur Verfügung stehenden Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik entsprechen in etwa denen in Schweden. Aber trotz dieser guten Voraussetzungen gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf: Das Angebot zur Weiterbildung muss qualitativ und quantitativ ausgeweitet werden, besonders für Jugendliche und ältere ArbeitnehmerInnen. Jugendliche sollen vor allem die Möglichkeit bekommen, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine Ausbildung zu machen. Ältere ArbeitnehmerInnen brauchen Zugang zu guter, langfristig angelegter Weiterbildung, um ihre Arbeitsmarktchancen dauerhaft verbessern zu können. Sozialer Arbeitsmarkt Mangelnde Qualifikation, gesundheitliche Probleme und andere Handicaps führen dazu, dass unter den derzeitigen Bedingungen für schätzungsweise 400.000 Menschen der Weg in den ersten Arbeitsmarkt versperrt bleibt. Für sie gilt es, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Diese Menschen benötigen öffentlich finanzierte sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, die mit langfristig konzipierter Beschäftigung und Qualifizierung ein sinnstiftendes Angebot unterbreiten, ohne den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu verbauen. 2. Teilhabe durch Zugang zu Bildung und Gemeinschaftsgütern Wir können es nicht hinnehmen, dass sich die Bildungs- und Einkommensarmut in Familien über Generationen reproduziert. Verkrustete Armutsstrukturen, die dazu beitragen, müssen wir aufbrechen. Vorrangige Aufgabe einer neuen Sozialpolitik ist es deshalb, allen Mitgliedern der Gesellschaft die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Wir brauchen eine Infrastruktur der Teilhabe. Sie muss gewährleisten, dass die öffentlichen Gemeinschaftsgüter allen offen stehen und auch den Schwächsten Chancen bieten. Angesichts begrenzter Ressourcen ist es auch in diesem Fall notwendig, Prioritäten zu setzen. An erster Stelle müssen die Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien stehen. Unsere grünen Schwerpunktbereiche sind Bildung, Betreuung, gesundheitliche Prävention und die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen. Bildung und Betreuung Die Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe werden ganz am Anfang eines Menschenlebens geschaffen. Qualifikation und soziale Herkunft haben in Deutschland stärkeren Einfluss auf die Beschäftigungs- und Lebenschancen als in den meisten anderen OECD-Staaten. Bildungsarmut wird hierzulande quasi vererbt, die Bildungs- und Lebenschancen hängen von der Qualifikation und dem sozialen Status der Eltern ab. Häufig bestimmt das Bildungsniveau der Eltern die Bildungschancen der Kinder. Diese skandalöse Abhängigkeit der Zugangschancen von der sozialen Herkunft muss beendet werden. Wir brauchen die Talente und die Kreativität von allen. Deswegen müssen wir von Anfang an in Bildung investieren: in Krippen und Kitas, Schulen, Hochschulen und das lebenslange Lernen. Frühkindliche Bildung Die frühkindliche Bildung in den ersten Lebensjahren bis hin zum Vorschuljahr muss quantitativ und qualitativ verbessert werden, Krippen und Kitas müssen wir zu Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsseinrichtungen ausbauen. Eltern soll ein Rechtsanspruch auf Tagesplätze für Kinder ab dem ersten Lebensjahr zustehen. Dafür müssen insgesamt 800.000 zusätzliche Betreuungs14 plätze für Kinder unter drei Jahren eingerichtet werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir Eltern und Kommunen unterstützen. ErzieherInnen sollen entsprechend ausgebildet und weiter qualifiziert werden. Insgesamt brauchen wir für den Ausbau der frühkindlichen Bildung zusätzlich mindestens 5,5 Milliarden Euro pro Jahr. Schulen Damit alle Kinder ihre Talente entwickeln können, muss das sozial hoch selektive Schulwesen grundlegend reformiert werden. Künftig sollen individuelle Förderung und gemeinsames Lernen im Mittelpunkt der Schulpädagogik stehen. Nach den erfolgreichen skandinavischen Vorbildern wollen wir eine Schule etablieren, in der Kinder bis zum 10. Schuljahr gemeinsam lernen können und in der ihre Verschiedenheit als Chance für alle genutzt wird. Dafür brauchen wir mehr Ganztagsschulen. Hochschulen Deutschland hat im internationalen Vergleich zu wenige Studienplätze in zu schlecht ausgestatteten Hochschulen. Sie platzen aus allen Nähten und sind genau wie die Schulen sozial hoch selektiv. Auch hier entscheiden häufig genug nicht Talent und Befähigung über die Aufnahme eines Studiums, sondern das Einkommen der Eltern. Nicht zuletzt wegen des wachsenden Mangels an Fachkräften ist das inakzeptabel. Aber es ist auch schlicht eine Frage der Gerechtigkeit, ob in der Wissensgesellschaft alle Zugang zu Hochschulbildung haben. Allen jungen Menschen müssen wir eine ausreichende Finanzierung ihres Studiums garantieren. Für den Ausbau der Studienkapazitäten, die Beseitigung des allgemeinen Investitionsrückstands und die Verbesserung des Lehrenden-/Studierendenverhältnisses rechnen wir insgesamt mit jährlich zusätzlich erforderlichen 7,4 Milliarden Euro. Lebenslanges Lernen Kontinuierliche Weiterbildung kommt in Deutschland noch immer zu kurz. Dabei verändern sich die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt mit zunehmender Geschwindigkeit. Das hat zur Folge, dass das einmal in Lehre, Berufsschule oder Studium erworbene Wissen nicht mehr den Erfordernissen eines langen Berufslebens genügt. Lernen bekommt in der Wissensgesellschaft eine neue Dimension: Es gibt nicht mehr die eine passgenaue, spezialisierte, dauerhafte Erstausbildung. Kontinuierliche Weiterqualifizierung ist unerlässlich, und sie muss sowohl an den Anforderungen der Arbeitswelt als auch an den persönlichen Zielen und Interessen des Lernenden ausgerichtet sein. Auch im lebenslangen Lernen ist Skandinavien ein Vorbild. Um die Quoten anderer Länder in der Weiterbildung zu erreichen, muss in Deutschland ein qualifiziertes System der Bildungsberatung verankert werden. Wir müssen die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen verbessern – mit dem Ziel, Anreize für neue Bildungsphasen nach Schule und (Erst-) Ausbildung zu geben. Aus finanziellen Gründen darf niemand von der Weiterbildung abgehalten werden. Hier sind Unternehmen und Gesetzgeber gleichermaßen gefragt. Für die erforderlichen Verbesserungen müssen schätzungsweise sechs Milliarden Euro jährlich veranschlagt werden. Wenn wir uns an den erfolgreichen Modellen aus Skandinavien orientieren, brauchen wir für eine unseren Ansprüchen genügende Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur insgesamt bis zu 32 Milliarden Euro jährlich. Unterstützung von Kindern und Familien Kinder und Familien brauchen bessere Angebote und Strukturen. Neben der klassischen Jugend- und Familienhilfe zählen hierzu beispielsweise Familienzentren, soziale Frühwarnsysteme, Hebammenprojekte für Familien in schwierigen Situationen und Kinderfreizeitkarten. Um insbesondere diejenigen Kinder und Familien zu erreichen, die häufig von pädagogischen, sportlichen, kreativen und ökologischen Angeboten ausgeschlossen sind, sollen Angebote dort geschaffen werden, wo sich die Kinder und Familien aufhalten: zum Beispiel in den Kindertagesstätten, Schulen und kommunalen Begegnungsstätten. Kinder mit Migrationshintergrund 15 müssen dabei besonders berücksichtigt werden, damit sie von Anfang an integriert sind. Die Angebote können durch Gutscheinsysteme unterstützt werden. Es gibt in diesem Bereich bereits zahlreiche Ansätze und Konzepte, die teilweise als alternativ, teilweise als ergänzend diskutiert werden. Letztlich wird die lokale Situation für die Wahl der konkreten Strukturen und Instrumente ausschlaggebend sein. Es steht jedoch fest, dass es solche Angebote flächendeckend geben muss, wenn alle Kinder und Eltern damit erreicht werden sollen. Für den erforderlichen Ausbau müssen wir mit zusätzlichen Kosten von 3,8 Milliarden Euro pro Jahr rechnen. Gesundheitliche Prävention Körperliche und psychische Krankheiten sind vielfach zugleich sowohl Ursache als auch Folge von sozialen Problemen und Ausgrenzung. Sie erschweren den Betroffenen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsprozess zunehmend. Wir müssen daher Gesundheitsförderung und Prävention grundlegend reformieren, um sie stärker als bisher auf sozial benachteiligte Gruppen auszurichten. In der Prävention spielen partizipative Strategien eine wichtige Rolle. Angebote müssen zusammen mit den Betroffenen entwickelt und umgesetzt werden. Ein geeigneter Ansatz ist beispielsweise die Gesundheitsförderung in der Schule oder im Stadtteil. Für eine Einstiegsphase sind in diesem Bereich 300 Millionen Euro jährlich zusätzlich erforderlich. Unterstützung für Menschen mit Behinderungen „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ – diesem Benachteiligungsverbot in Artikel 3 des Grundgesetzes muss eine diskriminierungsfreie Grundsicherung für Menschen mit Behinderungen entsprechen. Bezüglich ihrer Lebensbedürfnisse dürfen Menschen mit Behinderungen in der Grundsicherung also nicht anders gestellt werden als andere auch. Bedarfe, die sich trotz Barrierefreiheit allein aufgrund einer Behinderung ergeben wie beispielsweise eine Arbeitsassistenz, sind als Nachteilsausgleich anrechnungsfrei zu stellen. Ein schwer durchschaubarer Dschungel an unterschiedlichen Leistungssystemen und Institutionen im Sozialrecht verhindert derzeit, dass Behinderten die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen ohne Vorbedingung gewährt wird. Mittelfristig gehört es deshalb zur Grünen Existenzsicherung, dass ein einheitliches Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen die rechtlichen Grundlagen schafft. Die Infrastruktur ist gerade für Menschen mit Funktionsbesonderheiten oft wichtiger als finanzielle Hilfen. Die erforderlichen Verbesserungen können wir langfristig kostenneutral durch Umschichtungen erreichen. Mobilität für alle sichern Der Zugang zu einem bezahlbaren und gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr auf Straße und Schiene ist Voraussetzung für die Mobilität gerade von armen und bedürftigen Menschen. Auch angesichts höherer Energiepreise und mit Blick auf den Klimawandel ist der konsequente Ausbau der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur erforderlich. Dabei setzen wir Grünen uns für die Einführung von Sozialtickets ein. 3. Teilhabe durch eine gesicherte Existenz Alle Angebote und Versprechen zur Teilhabe werden allerdings zum Hohn, wenn die materielle Existenz nicht gesichert ist. Deshalb ist eine Existenzsicherung, die Erwachsenen und Kindern das soziokulturelle Existenzminimum garantiert, ein Kernelement des grünen Konzepts. Wir verstehen die Existenzsicherung als einen Rechtsanspruch, nicht als Almosen. Ihren Anspruch müssen Bedürftige ohne Diskriminierung oder Gängelung durch die Behörden in einem leicht verständlichen Verfahren geltend machen können. Die Würde der AntragstellerInnen muss dabei immer gewahrt bleiben. Niemand soll mehr aus Scham oder Angst vor Ämtern in Armut leben müssen. Das Arbeitslosengeld II erfüllt diese Bedingungen nicht: Die Regelsätze sind zu 16 niedrig, und die Anrechnung von Ersparnissen für das Alter ist ungerecht. Die verschärfte Anrechnung des PartnerInneneinkommens hat vor allem die Situation von Frauen verschlechtert. Die derzeitigen Regelungen hindern junge Menschen daran, aus dem Elternhaus auszuziehen. Regelsatz auf 420 Euro erhöhen Die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums muss künftig in einem nachvollziehbaren transparenten Verfahren ermittelt und jährlich an die veränderten Lebenshaltungskosten angepasst werden. Sachleistungen sollen ergänzend besondere Bedürfnisse decken. Experten beziffern den notwendigen monatlichen Regelsatz derzeit auf zwischen 390 und 460 Euro. Wir gehen in unseren Berechnungen von dem durch den DPWV ermittelten Regelsatz von 420 Euro aus. Die Erhöhung des Regelsatzes auf diesen Betrag kostet im Jahr rund 9,5 Milliarden Euro zusätzlich. Schutz der Altersvorsorge Vermögen, das der Absicherung im Alter dient, muss besonders geschützt werden. Denn wer selbstverantwortlich für das Alter gespart hat, soll diese Vorsorge auch in Anspruch nehmen können. In Anlehnung an die grüne Idee des Altersvorsorgekontos sollen künftig bis zu 3000 Euro pro Lebensjahr steuerfrei zurückgelegt werden können. Diese Ersparnisse werden bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit nicht berücksichtigt und werden nicht für Existenzsicherung herangezogen. Sie sind für den Bezieher der Existenzsicherung auch erst ab dem Renteneintritt verfügbar. PartnerInnen als eigenständige Individuen betrachten Die Grüne Existenzsicherung betrachtet auch in Partnerschaft lebende Männer und Frauen als eigenständige Individuen. Die Existenzsicherung darf ihnen nicht aufgrund des Einkommens ihres Partners vorenthalten werden, da sie sonst finanziell abhängig vom Partner würden. Deshalb soll die Existenzsicherung langfristig vollständig individualisiert werden. Dieser Prozess muss jedoch von der Individualisierung anderer Systeme wie der Einkommensteuer sowie der Krankenund Rentenversicherung begleitet werden. Schon jetzt müssen aber EhepartnerInnen einen eigenständigen Anspruch auf Beratung und auf aktive Förderung bei der Arbeitsplatzsuche haben. Existenz von Kindern sichern Kinder sind in Deutschland ein Armutsrisiko und häufig Grund für die Bedürftigkeit von Familien. Beim Kinderzuschlag für GeringverdienerInnen soll deshalb die Einkommensgrenze erhöht und der Umfang der Leistungen an den Bedarf angepasst werden. Wir wollen das Antrags- und Bewilligungssystem vereinfachen. Dadurch werden deutlich mehr Kinder vom Kinderzuschlag profitieren. Auch die Kinder von ALG II-EmpfängerInnen wollen wir besser unterstützen. Der derzeitige Regelsatz für Kinder in Höhe von 60 bzw. 80 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen wird den eigenständigen Bedürfnissen von Kindern nicht gerecht. Die Regelsätze für Kinder müssen nach kindgerechten Maßstäben und mit transparenten Indikatoren ermittelt werden. Die Erhöhung der Regelsätze für Kinder und der Ausbau des Kinderzuschlags sind für uns vorrangige Maßnahmen. Sie sollen erste Schritte zu einer umfassenden Kindergrundsicherung sein, die für alle Kinder das Existenzminimum individuell gewährleistet. Darüber hinaus sollen auch Sachleistungen zu einer optimalen Entfaltung und Entwicklung von Kindern beitragen. Die Übernahme von Kosten für die Schulmahlzeit, den Nahverkehr, die Bibliotheken und für den Sport- oder Musikunterricht erreichen Kinder aus ärmeren Familien oft zielgenauer als Geldleistungen. Deshalb haben auch Investitionen zugunsten einer guten Infrastruktur und kostenloser öffentlicher Dienstleistungen höchste Priorität, damit grundlegende Bedürfnisse von Kindern abgesichert werden. 17 Brücken-Existenzsicherung Die Veränderung der Erwerbsbiografien führt immer häufiger dazu, dass Menschen sich neu orientieren müssen: Phasen der Erwerbsarbeit wechseln sich ab mit Zeiten der Bildung, der Familienarbeit und des ehrenamtlichen Engagements. Für weite Teile der Bevölkerung ist es normal, sich bei Veränderungen immer wieder kreativ und selbst organisiert neu auszurichten. Dabei soll die Brücken-Existenzsicherung für eine begrenzte Zeit ohne Gegenleistung eine einfache und unbürokratische Hilfe sein. Sie richtet sich an Menschen, die nur materielle Absicherung benötigen. Um alles andere – den nächsten Auftrag, den nächsten Job oder die neue berufliche Perspektive – kümmern sie sich eigenständig. Für solche selbst bestimmten Phasen wollen wir größere Spielräume eröffnen. Ohne ihre Ansprüche auf Förderung und Beratung zu verlieren, bekommen die Betroffenen Zeit und Raum, um in Eigenregie ihre Projekte zu konzipieren und anzustoßen. Davon profitieren zum Beispiel Menschen, die im sozialen, künstlerischen oder im Medienbereich tätig sind und oft in Jobs arbeiten, die zeitlich begrenzt sind. Ganz bewusst richtet sich die Brücken-Existenzsicherung aber auch an Selbständige, die auf diese Weise vorübergehende Zeiten mit keinem oder geringem Einkommen überbrücken können. Langfristig profitable Existenzgründungen können so trotz kurzzeitiger Einkommensschwankungen fortgesetzt werden. Hilfestruktur und Bedingungen der Existenzsicherung Die Gewährung einer materiellen Existenzsicherung ist in eine umfassende Hilfestruktur eingebunden. Sie zielt darauf, die Hilfebedürftigkeit zu beenden und umfasst neben der Arbeitsförderung weitere Leistungen, die die Eingliederung in das Erwerbsleben unterstützen. Dazu gehören etwa die Schuldnerberatung und Angebote der psychosozialen Hilfe. Individuelle Probleme brauchen individuelle Lösungen Die persönliche Beratung muss Vorrang haben vor der schematischen Fallbearbeitung mittels EDV-Masken. In jedem Einzelfall muss ein qualifiziertes Fallmanagement dafür sorgen, dass die Bemühungen um Eingliederung und Qualifizierung greifen. Das Sozialgesetzbuch II hat die Möglichkeit eröffnet, Vielfalt und Flexibilität walten zu lassen. Diese Vielfalt muss noch wesentlich stärker genutzt werden. Mit der Reglementierung und Behinderung durch bürokratische Vorschriften dagegen muss Schluss sein. Selbstsuche und Selbstorganisation gehen vor Zuweisung, neue selbst bestimmte Phasen geben Raum für Eigenaktivitäten. Das Prinzip der Gegenseitigkeit Soziale Gerechtigkeit und Solidarität beruhen auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. In einem solidarischen System sozialer Sicherung können einerseits alle bei Bedürftigkeit vorbehaltlose Unterstützung erwarten. Andererseits müssen sich alle, die das gegenseitige Sicherheitsversprechen garantieren, darauf verlassen können, dass jedes Mitglied der Solidargemeinschaft seinen Anteil zum Erhalt derselben beiträgt. Dieses Prinzip ist konstitutiv für solidarisches Handeln. Bei der Erwartung einer solchen „Gegenleistung“ müssen zwingend die Fähigkeiten und Wünsche der Hilfebedürftigen berücksichtigt werden. Es besteht ein Wunsch- und Wahlrecht und das Recht jeder und jedes einzelnen, selbst vorzuschlagen, wie sie am besten zum Nutzen der Gesellschaft beitragen können. Wird Fähigkeiten, Wünschen und Vorschlägen der einzelnen Langzeitarbeitslosen nicht Rechnung getragen und besteht keine Wahl zwischen verschiedenen Förderangeboten, dürfen auch keine Sanktionen verhängt werden. Scheinangebote mit dem Zweck der so genannten „Überprüfung der Arbeitsbereitschaft“ lehnen wir ab. Insgesamt darf das Prinzip der „Gegenleistung“ nicht zum Ausgangspunkt für bürokratische Zumutungen werden, die am Ende die Würde der Betroffenen missachten. Auf keinen Fall darf es einen Sanktionsautomatismus geben. Hilfeempfänger können Sanktionsentscheidungen von einem paritätisch besetzten Widerspruchsausschuss prüfen lassen. Ihr Widerspruch hat – im Gegensatz zur aktuellen Regelung – aufschiebende Wirkung. Das physische Existenzminimum muss jederzeit gewährleistet sein. 18 Gleiche Grundsicherung für AsylbewerberInnen Nach wie vor liegen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz noch unter dem Sozialhilfeniveau. Diesem Missstand gilt es endlich zu begegnen. Wir wollen, dass AsylbewerberInnen sowohl die Grundsicherung für sich als auch für ihre Kinder in gleicher Höhe wie andere Bedürftige erhalten. Außerdem sollen sie leichter eine Arbeitserlaubnis bekommen können. 4. Finanzierung Teilhabe für alle gibt es nicht zum Nulltarif, die Grüne Grundsicherung kostet Geld. Die von uns in diesem Papier überschlägig benannten Kosten für die Investition in Gemeinschaftsgüter, institutionelle Transfers und bessere individuelle Transfers machen deutlich, dass wir dafür höhere steuerliche Realerträge benötigen. Insgesamt müssen wir Ausgaben in Höhe von mindestens 60 Milliarden Euro gegen finanzieren. Unser erster Ansatz zur Finanzierung besteht darin, Steuerschlupflöcher zu schließen, Steuerflucht und Steuerhinterziehung endlich konsequenter zu bekämpfen. Im Rahmen des zweiten Teils der Föderalismusreform fordern wir deshalb auch eine bundeseinheitliche Steuerverwaltung. Zweistellige Milliardenbeträge sind dadurch insgesamt zu erzielen. Steuererhöhungen, die die Steuerflucht dramatisch erhöhen, würden das Finanzierungsproblem verschärfen statt es zu lösen. Wir halten allerdings die Erhöhung der privaten Einkommensteuer unter voller Einbeziehung privater Kapitalerträge für sinnvoll. Der Spitzensteuersatz soll auf 45% steigen. Einkommen aus Vermietung und Verpachtung müssen realistisch ermittelt werden. Beides erbringt jährlich etwa Mehreinnahmen von 7 Milliarden Euro. Der Umbau des Ehegattensplittings zu einem Familienrealsplitting erbringt schätzungsweise 5 Milliarden Euro. Der steuerliche Beitrag der Vermögen ist in Deutschland besonders niedrig. Mehrere Milliarden Euro zusätzlich lassen sich durch eine gerechtere Besteuerung hoher Erbschaften erzielen, denn es ist nicht einzusehen, dass diese Vermögen nicht ihren angemessenen Anteil zum Steueraufkommen beitragen. Dass es besser ist, in Bildung zu investieren als glücklichen Erben leistungslose Reichtümer zu sichern – dafür werden wir Verständnis finden. Zur Stärkung der Kommunen ist die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Dies kann weitere 7 Milliarden Euro erbringen. Mit einem Teil der bestehenden Einnahmen aus der Mehrwertsteuer wollen wir das Progressivmodell finanzieren. Außerdem treten wir dafür ein, die ökologische Finanzreform fortzusetzen und dabei die Verbindung ökologischer und sozialer Ziele ins Zentrum zu rücken. Pro Jahr können wir umweltschädliche Subventionen von mehr als zehn Milliarden Euro sparen. Derzeit steigen die Subventionen durch Ausnahmen bei der Ökosteuer sogar noch, obwohl sie schon über fünf Milliarden Euro pro Jahr ausmachen. Für die Steinkohlesubventionen bis 2018 sind noch 30 Milliarden Euro veranschlagt. Außerdem wollen wir den Vorschlag eines Öko-Bonus aufgreifen. Die ökologisch sinnvolle Besteuerung von Strom- und Wärmeverbrauch soll erhöht werden, um soziale Umverteilung zu verwirklichen, die Einkommensschwachen und zu Gute kommt, die Energieeffizienz und Energieeinsparung umsetzen. III. Fazit Gesicherte Existenz, neue Chancen Die Grüne Grundsicherung ist unsere Antwort auf die Veränderung der Gesellschaft, unser Konzept gegen die Aufspaltung in Gewinner und Verlierer und für mehr Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Wir wollen die Menschen nicht nur materiell versorgt wissen, sondern ihnen gleichzeitig Chancen bieten, ihre Fähigkeiten zu entfalten und auf ihre Weise an der Gesellschaft teilzuhaben und sie voranzubringen. 19 Voraussetzung dafür ist eine existenzsichernde Regelleistung für Erwachsene und Kinder. Die materielle Sicherheit ist jedoch nur ein Element der Grundsicherung. Das zweite Element ist die Garantie auf Teilhabe, das heißt den Zugang zu Arbeit, zu Bildung und zu sozialer Infrastruktur. Die Teilhabegarantie stellt sicher, dass wir unsere Gesellschaft nachhaltig verändern. Dass wir nicht nur kurzfristig Armut abfedern, sondern Wege zu einem selbst bestimmten Leben unabhängig von staatlicher Alimentierung eröffnen. Die Grüne Grundsicherung markiert einen Aufbruch in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Einen Aufbruch zu einem Sozialstaat, der Mut statt Angst macht und der das Potenzial aller BürgerInnen zu schätzen und zu nutzen weiß. 20 Das Grüne Grundeinkommen: 3 Individualisiert, unbürokratisch, modular Für einen neuen sozialen Zusammenhalt I. Ziele und Erfahrungen grüner Sozialpolitik Eine zukunftsfähige grüne Sozialpolitik stellt Chancen-, Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit in einen vernetzten Zusammenhang. Adressaten sind nicht nur Erwerbslose, sondern ebenso BezieherInnen von kleinen und mittleren Einkommen, Haushalte mit Kindern, Menschen in Ausbildung und Studierende, Menschen mit unstetigen und brüchigen Erwerbsverläufen und kleine Selbständige. Das Grüne Grundeinkommen ist eine zeitgemäße Antwort auf den dramatischen Wandel derErwerbsgesellschaft und auf die zunehmenden sozialen Spaltungstendenzen. Es versteht sich nicht als Patentrezept, sondern als eine wichtige freiheitliche und soziale Grundlage für Grüne Politik. Um den umfassenden sozialpolitischen Anforderungen gerecht zu werden, kombiniert das Grüne Grundeinkommen eine nicht bedarfsgeprüfte Sockelleistung für alle mit bedarfsgeprüften und lebenslagenspezifischen Zusatzleistungen. Darin unterscheidet es sich von anderen, marktradikalen und neoliberalen Grundeinkommenskonzepten und führt die Grünen Wertvorstellungen von Individualität und Selbstbestimmung mit denen von Gerechtigkeit und Gemeinwohl zusammen. 1. Rückblick: Die Grünen und die Agenda 2010 Die wachsende Verunsicherung und die Angst vor sozialem Abstieg reichen bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Sie wurde durch zahlreiche Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 noch verstärkt. Unbestreitbar ist: Ein Zurück zur Sozialhilfe von 2004 ist keine Antwort. Die Sozialhilfe stand für Stigmatisierung und sozialen Ausschluss. Vor diesem Hintergrund fällt auch unsere Bilanz zum gesellschaftlichen Streitthema Hartz IV differenziert aus: Gut ist die Zusammenführung von steuerfinanzierten Leistungen sowie die Einbeziehung der ehemaligen Sozialhilfeempfänger/innen in die Arbeitsmarktförderung. Der Grundsatz der Hilfe aus einer Hand macht Sinn. Die Verringerung der verdeckten Armut von Arbeitslosen ist ein Erfolg, auch wenn sich viele Politiker/innen über die nun offenbar gewordene Zahl der Bedürftigen erschreckt haben. Absolut sinnvoll ist auch der Ansatz der fachübergreifenden Hilfe, des Fallmanagements. Negativ ist dagegen, dass es für Hartz IV-EmpfängerInnen keine Förderung auf gleicher Augenhöhe gibt: Den Forderungen stehen keine Rechtsansprüche auf Förderung gegenüber, das System ist auf Kontrolle statt auf Ermutigung zur Eigenverantwortung ausgerichtet. Die extremen Zumutbarkeitsbedingungen verstärken diese Schieflage. Die Regelleistung reicht nicht für die gesellschaftliche Teilhabe aus. Wohlfahrtsverbände haben ermittelt: Mindestens 420 Euro für Erwachsene plus Wohnkosten wären notwendig, um das Sozialhilfeniveau von 1994 in heutigen Preisen zu realisieren. Die „Ermittlung der Regelleistung für Kinder“ ist nicht sachgerecht und führt dazu, dass Lebensverhältnisse mit Kindern benachteiligt sind.Viele Frauen haben im Zuge von Hartz IV ihre Leistungsansprüche verloren. Die Leistungsansprüche müssen deshalb individualisiert, d.h. an Individuen statt an Haushaltskontexte gekoppelt werden. Ein ebenso wunder Punkt ist die rigide Anrechnung von Zuverdiensten, die faktisch als Barriere gegen die Integration in den Arbeitsmarkt wirkt. Die Zuverdienstmöglichkeiten sind zu verbessern, um den Übergang in den Arbeitsmarkt zu fördern und den Anreiz zur Schwarzarbeit zu verringern. 3 Dieser Teil des Berichts wird unterstützt von: Bärbl Mielich, Nicole Maisch, Robert Habeck, Stefan Ziller, Thomas Poreski, Wolfgang Strengmann-Kuhn 21 2. Sackgasse bedarfsgeprüfte Grundsicherung Das bisherige bedarfsgeprüfte System kann weniger repressiv gestaltet werden, etwa indem die Leistungssätze angehoben werden oder Altersrückstellungen besser geschützt werden. Wir sehen aber eine Grenze der Reformmöglichkeiten, wenn man mit dem Anspruch der Individualisierung, einem besseren Anreiz zur Arbeitsaufnahme, vor allen Dingen aber auch mit einem auf Vertrauen und Mündigkeit gegründeten Gesellschaftsbild ernst macht. Wir befürchten, dass diese für uns zentralen Punkte aus Kostengründen auf die lange Bank geschoben werden. Manche GegnerInnen eines Grundeinkommens spielen monetäre Transfers gegen Investitionen in eine bessere soziale Infrastruktur aus. Die finanziellen Transfers, in denen wir eine Voraussetzung zur Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern sehen, werden gegen letztere selbst ausgespielt. Innerhalb der Kommission – also auch bei den GrundsicherungsbefürworterInnen – gab es einen anderen Konsens: Wir brauchen einen massiven Ausbau der sozialen Infrastruktur einschließlich beitragsfreier Leistungen wie Schulbücher und Schulmahlzeiten, aber ebenso eine angemessene finanzielle Grundausstattung. Ohne sie ist soziale Teilhabe in einer Marktgesellschaft nicht möglich. Auch deshalb haben Grüne immer gegen das Sachleistungsprinzip im Asylbewerberleistungsgesetz gekämpft. Das von uns vorgeschlagene Modell für ein Grünes Grundeinkommen ist wesentlich im Einkommenssteuersystem implementiert. Für den gesamten Ausbau der Infrastruktur stehen alle anderen Vorschläge zur Verfügung, die in der grünen Debatte in der letzten Zeit eine Rolle gespielt haben. Insofern ermöglicht unser Vorschlag eine Gleichzeitigkeit beider Wege. Institutionen und individuelle Transfers müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bereits heute beziehen fast 9 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Viele von ihnen fühlen sich stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Hinzu kommen noch 3 bis 4 Millionen Berechtigte, die ihren Anspruch nicht geltend machen, die so genannten verdeckt Armen. Da die Einkommen im unteren Bereich sehr eng gestaffelt sind, bedeutet das aber, dass bereits bei geringen Verbesserungen Millionen Menschen zusätzlich anspruchsberechtigt werden, deren Einkommens- und Vermögensverhältnisse geprüft werden müssen. Je nach dem wie die Verbesserungen im Einzelnen aussehen, könnten 15 bis 20 Millionen Menschen einen Anspruch auf eine Grundsicherung erhalten. Das alte Sozialsystem stößt so gesellschaftspolitisch an seine Grenzen. Die Bürokratie würde erheblich aufgebläht werden, durch die Bedarfsprüfungen nimmt der Anreiz zur Schwarzarbeit zu. Alleine eine Erhöhung des Regelsatzes auf 420 Euro bedeutet Mehrkosten in Höhe von fast 10 Milliarden Euro. Verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten, eine geringere Berücksichtigung von Vermögen und eine weniger strikte Anrechnung von PartnerInnen-Einkommen, die weitere Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe verursachen, sind dabei noch nicht mitgerechnet. Unklar ist zudem, wie eine Finanzierung dieser Zusatzausgaben ohne eine grundlegende Finanzreform gelingen könnte. Wo das Hartz IV-System in überzeugender Weise hin zu einer echten Grundsicherung weiter entwickelt werden kann, sind bereits wesentliche Elemente eines Grundeinkommens erkennbar - etwa bei individuellen und nicht bedarfsgeprüften Ansprüchen in der Kindergrundsicherung oder beim Brückengeld. So sehr diese Schritte in die richtige Richtung zeigen, so halbherzig sind sie doch, und sie setzen immer weitere Überprüfungsmechanismen und Antragsbürokratien voraus. Hauptkritikpunkt jedoch ist, dass das bedarfsorientierte Grundsicherungssystem im Endeffekt auf Sanktionen zurückgreifen muss, während wir überzeugt sind, dass ein armutsfester Sockel sanktionsfrei zu stellen ist. 3. Nicht jedes Grundeinkommen ist „grün“ Ebenso wenig wie alle Vorstellungen einer bedarfsorientierten Grundsicherung gleichgesetzt werden können, grenzt sich das Grüne Grundeinkommen klar von anderen Konzepten ab: Bei dem Modell des thüringischen CDU-Ministerpräsidenten Althaus bleiben die Verteilungs- und Chancengerechtigkeit auf der Strecke, auch deswegen, weil individuelle Sonderbedarfe nicht mehr ausreichend gedeckt werden. Ein vergleichsweise niedriges Grundeinkommen ohne Zu22 satzbedarfe soll mit einem Spitzensteuersatz von 25 Prozent finanziert werden. Fakt ist, dass dieser Steuersatz nicht ausreicht, ohne dass an anderer Stelle wie zum Beispiel bei der sozialen Infrastruktur gekürzt werden muss, um das Konzept doch noch finanzierbar zu machen. Beim neoliberalen Ansatz des Chefs des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straubhaar, wird die soziale Infrastruktur zugunsten des Grundeinkommens geopfert. Das geht zu Lasten des unteren und mittleren Segments der Gesellschaft. Das ist mit grünen Vorstellungen nicht vereinbar. Der Ansatz des Drogeriemarktchefs Götz Werner, ein Grundeinkommen über eine reine Mehrwertsteuer zu finanzieren, würde die Verteilungsgerechtigkeit nicht verbessern und wäre mit den dann anzusetzenden Mehrwertsteuersätzen von bis zu 100 Prozent entweder völlig unrealistisch oder nur mit jahrzehntelangen Übergängen zu erreichen. Zudem bleibt unklar, was mit der sozialen Infrastruktur passieren soll – so spricht er unter anderem von einer rein freiwilligen Krankenversicherung. Beim Modell der Linksparteipolitikerin Katja Kipping wird dagegen mit so hohen Transfers operiert, dass die Spitzenbelastung der Einkommen auf rund 75 Prozent ansteigen müsste. Das wäre weder national, noch international realistisch umsetzbar. Die rigide Einkommensanrechnung wäre ein „gefühltes Hartz IV für alle“. Wir erkennen an, dass unterschiedliche Einkommen zu einer Marktgesellschaft gehören. Krasse soziale Spaltungen in Arm und Reich, wie wir sie zunehmend erleben, untergraben dagegen das Fundament einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Deswegen ist eine bessere Verteilungswirkung der Steuer- und Transferpolitik unabdingbar. Ebenso gilt: Ein Ersatz aller Sozialsysteme, im Tausch gegen ein sehr hohes Grundeinkommen, ist nicht nur schwer zu finanzieren. Es ist auch nicht sinnvoll, da es immer Lebenslagen gibt, die eine besondere Zuwendung erfordern. Für uns Grüne hat die Marktwirtschaft Zukunft, wenn sie ökologisch und sozial ausgestaltet ist. Dazu kann ein Grünes Grundeinkommenskonzept einen wichtigen Beitrag leisten. Ein Grünes Grundeinkommen unterscheidet sich von anderen Konzepten dadurch, dass es sowohl freiheitlich, als auch sozial motiviert ist. II. Der Weg zum Grünen Grundeinkommen Wir wollen einen zukunftsweisenden Umbau unseres Sozialsystems, der die Solidarität vom Kopf auf die Füße stellt. Dazu gehört als zentraler Baustein ein Existenz sicherndes Sockelgrundeinkommen für Erwachsene im erwerbsfähigen Alter sowie für Kinder. Ergänzend notwendige Leistungen für Wohnkosten und für Hilfen in besonderen Lebenslagen, wie Behinderungen, werden wie bisher bedarfsgeprüft gewährt. Parallel dazu soll der dringend notwendige Ausbau der sozialen Infrastruktur verwirklicht werden, von der Bildung über die Kinderbetreuung bis zu einer wirklich greifbaren Arbeitsmarktintegration für benachteiligte Menschen. Außerdem sollen die sozialen Sicherungssysteme zur Absicherung der Risiken im Alter, bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit nicht mehr an die abhängige Beschäftigung gekoppelt, sondern zu einer solidarischen, aus allen Einkünften gespeisten Bürgerversicherung umgebaut werden. Ein Projekt wie die solidarische Neuausrichtung der sozialen Sicherung kann natürlich nicht auf Knopfdruck verwirklicht werden. Notwendige Anpassungen haben unterschiedliche Geschwindigkeiten: Eine Steuerreform ist zügiger umsetzbar als der Umbau der sozialen Sicherungssysteme. Somit gehört zur Praxistauglichkeit eines Konzepts, dass es in überschaubaren und nachvollziehbaren Schritten vollzogen wird. Diese Bausteine müssen in sich schlüssig sein und aufeinander aufbauen. Wir machen hierzu einen konkreten Vorschlag. Aber selbstverständlich ist auch eine andere Modularisierung vorstellbar und je nach den politischen Rahmenbedingungen können einzelne Schritte auch langsamer oder deutlich schneller umgesetzt werden. 1. Basis: Bedingungsloses Sockelgrundeinkommen In einem ersten Schritt wollen wir ein einkommensteuerfreies Sockelgrundeinkommen von zunächst monatlich 420 Euro für alle ab 16 Jahren und 300 Euro für Kinder bis 16 Jahre einführen. Diesen Basismodulen folgen in weiteren Schritten der Umbau der Sozialversicherungen zu Bür23 gerversicherungen sowie Maßnahmen zur Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Dadurch werden Spielräume frei, durch die das Sockelgrundeinkommen in einem überschaubaren Zeitraum auf 500 Euro für Erwachsene und 400 Euro für Kinder ansteigen kann, was unsere Zielvorgabe ist. Anspruchsberechtigt sind alle Menschen, die – analog zur heutigen Gesetzeslage – ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Alle anderen erhalten weiterhin ausschließlich bedarfsgeprüfte Leistungen. Beide Beträge steigen mindestens entsprechend der Inflationsrate. Das Sockelgrundeinkommen ersetzt steuerfinanzierte Transfers wie das Arbeitslosengeld II, das Bafög (Zuschussanteil) und das Kindergeld. Die Finanzierung des Grundeinkommens ist ohne Kürzung bei anderen Ausgaben möglich. Die Einführung des Sockelgrundeinkommens geht mit einer grundlegenden Einkommensteuerreform einher: Bei zusätzlichem Einkommen ersetzt das Sockelgrundeinkommen den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer. Es gibt künftig nur noch eine Steuerklasse und nahezu alle Vergünstigungen in der Einkommensteuer werden gestrichen. Beispielsweise das Ehegattensplitting und die Kilometerpauschale. Insgesamt wird auch auf der Einnahmenseite der Bürokratieaufwand deutlich reduziert, da die Auszahlung nur noch von einer Stelle vorgenommen wird. Einige Befürworter anderer Grundeinkommensmodelle halten es für einen Makel, dass unser System nicht alle Bedürftigkeitsprüfungen, wie etwa die Wohnkosten, abschafft. Richtig ist aber, dass es nun einmal verschiedene Lebenslagen gibt und ein Grundeinkommen - und sei es noch so hoch - niemals alle Notlagen abdecken kann. Durch das von uns vorgeschlagene Sockelgrundeinkommen reduziert sich die Zahl der Bedarfsprüfungen erheblich. Durch die Individualisierung (Überwindung der Bedarfsgemeinschaften) und die besseren Zuverdienstmöglichkeiten verbessert sich die Situation von heutigen Hartz IVEmpfängern auch gegenüber einer Grundsicherung nochmals relevant. 420 bzw. 300 Euro entsprechen der Regelleistung, die Sozialverbände für Hartz IV-EmpfängerInnen fordern. Diese Leistung gibt es aber für alle, bedingungslos, ohne Bedürftigkeitsprüfung und individualisiert. Also auch ohne den bei Hartz IV üblichen „Haushaltsabschlag“ von 20 bis 40 Prozent pro Person. Leistungen für Menschen in besonderen Lebenslagen sowie für den Wohnbedarf gibt es weiterhin auf Antrag. Alle bisherigen Hartz IV-EmpfängerInnen sind damit materiell besser gestellt und haben gegenüber der Grundsicherung einen individuellen Anspruch sowie einen deutlichen Arbeits- und Zuverdienstanreiz, jedoch keinen Arbeitszwang! Personen ohne eigenes Einkommen müssen somit durch das Grundeinkommen lediglich bei Bedarf Wohngeld beantragen. Materiell erheblich besser gestellt werden zudem 2,8 Millionen Menschen, die im heutigen System verdeckt arm sind, die also anspruchsberechtigt sind, aber aus zahlreichen Gründen keine Leistungen beziehen. Unverändert bleiben bei diesem ersten Baustein die Sozialversicherungen für Rente, Gesundheit, Pflege und Arbeitslosigkeit sowie ihre Finanzierung durch Beiträge und Steuerzuschüsse. Nur zwei Anpassungen werden vorgenommen: Alle Menschen sind Mitglied einer Krankenversicherung und die Beiträge werden bei gesetzlich Versicherten ausschließlich auf Grundlage des Einkommens erhoben. Der Fehlbetrag wird - wie heute bei Hartz IV -, steuerfinanziert. Wir sehen in allen Sozialsystemen großen Reform- und Veränderungsbedarf. Unser Modell einer schrittweisen Entwicklung ermöglicht es jedoch, diesen unabhängig von der Umstellung auf ein Grundeinkommen zu diskutieren. 2. Einkommenswirkung Für die Finanzierung der Basismodule wäre eine durchschnittliche Steuerbelastung von 35 Prozent auf alle Einkommen ausreichend. Der Einfachheit halber wird hier ausschließlich mit diesem Einheitssteuersatz gerechnet, obwohl wir einen Mix aus einer progressiven Einkommensbesteuerung mit einem Spitzensteuersatz von 45%, sowie eine weiter entwickelte ökologische Steuerreform, anstreben. Seine solidarische und progressive Wirkung zeigt das Grundeinkommen auch in der vereinfachten Darstellung, denn es wird als „negative Einkommensteuer“ ausgestaltet: So hat eine allein stehende Person mit einem Bruttoeinkommen von 1.000 Euro 24 bei einem Steuersatz von 35% eine Steuerbelastung von 350 Euro, gleichzeitig aber einen Anspruch auf ein Grundeinkommen von 420 Euro. Sie zahlt also unter dem Strich keine Steuern, sondern bekommt noch zusätzlich etwas – nämlich eine „negative Einkommensteuer“ von 70 Euro. Bei einem 4-Personen-Haushalt mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 3.000 Euro wird eine Einkommensteuerbelastung von 1.050 Euro Steuern mit einem Grundeinkommen von 1.440 Euro verrechnet (420 Euro für die Erwachsenen, je 300 Euro für die Kinder). Die „negative Einkommensteuer“, also der tatsächliche Zuschuss, beträgt hier 390 Euro. Familien werden mit dem Grundeinkommen deutlich besser gestellt als mit dem Ehegattensplitting. Bereits ein Steuersatz von „echten“ 35 Prozent würde für „Besserverdienende“ und für gut verdienende DoppelverdienerInnenhaushalte dagegen eine deutliche Mehrbelastung bedeuten, denn die heutigen Steuersätze stehen nur auf dem Papier . So hat ein kinderloser Doppelverdienerhaushalt mit einem Bruttoeinkommen von 12.000 Euro eine Steuerbelastung von 4.200 Euro, abzüglich eines Grundeinkommens von 840 Euro - das sind real 3.360 Euro. Bei einem realen Steuersatz von heute 25 Prozent wäre dies z.B. eine Mehrbelastung von monatlich 360 Euro. Angesichts der sozialen Schieflage in Deutschland ist eine Mehrbelastung höherer Einkommen durchaus gerechtfertigt. Gegenwärtig verfügen laut OECD die unteren 50 Prozent der Bevölkerung gerade mal über 3 Prozent des Geld- und Sachvermögens, während die oberen 10 Prozent über mehr als 50 Prozent verfügen und hohe Einkünfte aus ihnen erzielen. Eine deutlichere Progression der realen Steuersätze würde die umverteilende Wirkung stärken und die Schere zwischen Arm und Reich ein Stück weit schließen. Mit der Einführung des Grünen Grundeinkommens werden Menschen in besonders benachteiligten Lebensverhältnissen, aber auch kleine Selbstständige, gestärkt. Denn erst ab einem Einkommen von 1.200 Euro (bei Einzelpersonen) fallen Steuerzahlungen an. Bis zu diesem Betrag (35% von 1.200 Euro entsprechen genau 420 Euro) wird das Grundeinkommen direkt mit der Einkommensteuer verrechnet. Somit werden Zuverdienste bei Einkommensschwachen – bisherigen Hartz IV-EmpfängerInnen – nicht wie heute mit 80 Prozent verrechnet, sondern nur mit 35 Prozent plus Sozialversicherungsabgaben (derzeit maximal 20%). Dadurch wird der Anreiz eigenes Einkommen zu erwirtschaften stark erhöht. 3. Wirkung der Basismodule - Fehlentwicklungen von Hartz IV werden korrigiert: Die Situation armer Menschen wird deutlich verbessert, die Bürokratie nimmt ab, ebenso die verdeckte Armut. - Die Zuverdienstmöglichkeiten werden verbessert. Das Lohnabstandsgebot wird immer erfüllt. - Unstete Erwerbsverläufe werden abgesichert. - Individualisierte, nicht an den Partner oder Haushalt gekoppelte Ansprüche kommen besonders Frauen zugute. - Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird für Frauen und Männer attraktiv, individuelle Lebensmodelle werden unterstützt. - Das Steuersystem wird einfacher, übersichtlicher und gerechter: Rechnerisch verdoppelt sich in etwa der heutige Grundfreibetrag in der Einkommensteuer. Mit der von uns vorgeschlagenen Gegenfinanzierung werden sowohl die bisherigen öffentlichen Ausgaben, als auch der Zusatzaufwand für das Grundeinkommen gedeckt. Umschichtungen im Haushalt oder zusätzliche Steuereinnahmen können direkt für den nötigen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur verwendet werden. Im Wesentlichen handelt es sich bei den vorgeschlagenen Änderungen um eine Umverteilung zwischen Erwerbstätigenhaushalten: KleinverdienerInnen zahlen entweder keine Steuer oder erhalten in der Summe sogar einen Zuschuss. Bereits ein relativ geringes eigenes Einkommen reicht aus, um über die Armutsgrenze zu kommen. Familien – ausdrücklich auch Alleinerziehende - werden durch das Kindergrundeinkommen begünstigt bzw. erst gar nicht arm. 25 Gutverdienende werden in vertretbarem Umfang stärker, entsprechend ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit, herangezogen. Die Spaltung zwischen Arm und Reich wird durch diesen ersten Schritt reduziert. 4. Aufbaumodule Neben dem Sockelgrundeinkommen können spezielle lebenslagenbezogene Module aufgebaut werden, die das Grundeinkommen aufstocken und die im Regelfall auch die Wohnkosten mit abdecken, wie dies etwa bei einem Bildungsgrundeinkommen oder z.B. bei einer Reform des Rentensystems der Fall wäre. Durch ein nicht rückzahlbares Bildungs-grundeinkommen, das es zum Beispiel im skandinavischen Raum gibt, werden Phasen der Bildung und Weiterbildung abgesichert und Kinder aller sozialen Schichten zum bestmöglichen Bildungsabschluss befähigt. Rentnerinnen und Rentner mit geringen eigenen Rentenansprüchen sollen nicht mehr gezwungen sein, zum Sozialamt zu gehen, um ein ausreichendes Einkommen zu beziehen. Mit der Einführung einer Bürgerversicherung auch für die Rente, kann die Rentenversicherung nach dem Vorbild der Schweizer Rentenversicherung erfolgen: Mit einem armutsfesten Mindestsockel und einer gedeckelten Maximalrente. III. Schnittstellen und Schlüsselfragen 1. „Geld für alle“, richtig verteilt Das Grüne Grundeinkommen wird mit der Einkommensteuer verknüpft und mit ihr verrechnet: Wer wenig verdient, hat netto mehr als heute. Mittlere Einkommen profitieren, wenn Kinder im Haushalt leben. Große Einkommen werden in einem vertretbaren Umfang höher belastet als heute. Durch diese Verknüpfung ist es egal, dass auch die immer wieder gern zitierte „Zahnarztgattin“ auf dem Papier ein Grundeinkommen bekommt. Denn in der Summe haben sie und ihr Gatte eine höhere Steuerlast als heute. Das Grüne Grundeinkommen ist also ein Instrument, um mit weniger Bürokratie mehr Verteilungsgerechtigkeit als heute zu organisieren. Hinter der Frage nach der „Alimentierung“ steckt aber auch häufig ein anderer Irrtum: In einer Marktgesellschaft muss der Staat wirksame Rahmenbedingungen setzen, um zu verhindern, dass die Einkommens- und Vermögensschere immer weiter auseinanderklafft. Er muss dafür Sorge tragen, dass es zwischen den Extremen eine breite und stabile Mitte gibt. Als Regulierungsinstrumente stehen vor allem Steuern und Abgaben zur Verfügung. Momentan gelingt diese Regulierung aber nur sehr unzureichend, obwohl wir ein sehr kompliziertes und betrugsanfälliges Steuersystem haben. 2. Staatshaushalt und Finanzierung Während bei einer bedarfsorientierten Grundsicherung Zusatzkosten entstehen, die mit Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen und Einschneidungen an anderer Stelle bezahlt werden müssen, ist das Grüne Grundeinkommen vollständig gegenfinanziert, ohne den bisherigen Haushalt zu belasten. Ein Teil der Finanzierung ergibt sich durch das Ersetzen steuerfinanzierter Transfers. Direkt ersetzt werden Kindergeld (32 Milliarden), der Kinderzuschlag (3 Milliarden), BAföG (1,5 Milliarden), Geldleistungen in Hartz IV (über 30 Milliarden) und deren Bedarfsprüfungsbürokratie (3,5 Milliarden). Zur Finanzierung des verbleibenden Volumens wollen wir einen Mix aus einer reformierten Einkommens- und Vermögensbesteuerung und ökologischen Verbrauchssteuern. Wie hoch die einzelnen Anteile an dem Steuermix sein werden, ist nicht existenziell für das Grundeinkommen. Gerade für Grüne unabdingbar ist die Weiterentwicklung der ökologischen Finanzreform, die eine Abschaffung von Ausnahmen bei der bisherigen ökologischen Besteuerung beinhaltet. Eine weiter steigende Besteuerung umwelt- und klimaschädlicher Produkte stößt aber an soziale Grenzen. Um diese auszugleichen, ist ein Systemwechsel weg von der Anrechnung von Gelder unumgänglich. Sonst wird jeder weitere ökologische Schritt die soziale Schere vergrößern und (dann zu Recht) politisch nicht mehrheitsfähig sein. Wir aber wollen an der rot-grünen Regie26 rung anknüpfen und ein Energiegeld einführen. Dieser Vorschlag Grüner UmweltpolitikerInnen, bei dem eine Energie- und Ressourcenbesteuerung unerwünschten Verbrauch verteuert und die eingenommenen Gelder als „Öko-Bonus“ wieder an die Bevölkerung zurück gibt, ergänzt und erhöht das Sockelgrundeinkommen. 3. Individuelle Steuerbelastungen Heute ist die Steuerbelastung im unteren und mittleren Einkommensbereich sehr hoch, im oberen dagegen zum Teil bei nur bei real 20 Prozent. Der reale Durchschnittssteuersatz auf alle Einkommen (Arbeitnehmer-Bruttolöhne und Gehälter, einmalige Zahlungen, Selbstständige, Nebentätigkeiten, Zinsen, Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, in Summe 1164 Milliarden) liegt heute bei unter 16 Prozent – daraus ergeben sich die heutigen Staatseinnahmen aus der Einkommenssteuer, von 185 Milliarden Euro (Sozioökonomisches Panel, Stand 2005). Mit dem Grundeinkommen liegt der vorgegebene durchschnittliche Steuersatz bei einem Durchschnitt von 35 Prozent. Der reale Steuersatz bewegt sich zwischen einem kräftigen Minus – also dem vollen Grundeinkommen – und 45 Prozent. Das bisherige Volumen von 185 Milliarden, das in den allgemeinen Staatshaushalt fließt, bleibt unverändert. Das zusätzlich bewegte Volumen bedeutet keine „Mehrkosten“ gegenüber heute, sondern steht für die Differenz zwischen den realen und den theoretischen Steuerbelastungen. Eine solche Differenz gibt es mit dem jetzigen System ebenfalls, denn die nominalen Steuersätze schwanken zwischen 15 und 42 Prozent, während der durchschnittliche Steuersatz bei knapp 16 Prozent liegt. Das nicht in den Steuertopf fließende Volumen hat wie beim Grundeinkommen eine Verteilungswirkung, die etwa dem steuerlichen Grundfreibetrag (geschätztes Volumen allein ca. 60 Milliarden) entspricht. Im heutigen System werden in erster Linie große Einkommen begünstigt, mit einer Vielzahl von Sonderregelungen und Ausnahmetatbeständen wie dem Ehegattensplitting oder dem Kinderfreibetrag. Diese Freibeträge oder Ausnahmetatbestände führen dazu, dass Kinder von SpitzenverdienerInnen mit monatlich 255 Euro subventioniert werden, während für Kinder von NormalverdienerInnen nur ein Kindergeld von 154 Euro bezahlt wird. Dieses große Kuddelmuddel, das die Spaltung in Arm und Reich weiter verschärft, wird durch das Grundeinkommen korrigiert. Die Berechnungen beruhen auf der Steuerbasis von 2005. Diese Basis ist seither deutlich größer geworden. 4. Ältere Menschen,MigrantInnen und AsylbewerberInnen Über 65 Jährige profitieren vom Grundeinkommen von Anfang an, da zu niedrige Renten auf mindestens 420 Euro erhöht werden. Die verdeckte Altersarmut von heute 30 Prozent, die durch die bedarfsgeprüfte Grundsicherung für Ältere nicht erfasst wird, wird so bekämpft. MigrantInnen mit dauerhaftem Lebensmittelpunkt in Deutschland erhalten das Grundeinkommen uneingeschränkt. Der Anspruch könnte entweder gleitend erworben werden – etwa 10% pro Jahr – oder nach einer Mindestfrist von 5 Jahren. In jedem Fall bleibt der Zugang zu bedürftigkeitsgeprüften Leistungen uneingeschränkt bestehen. Die Ansprüche von MigrantInnen und AslybewerberInnen werden bedarfsabhängig ermittelt. 5. Verhältnis zur Arbeitsgesellschaft Die Teilhabe an Erwerbsarbeit bedeutet für die meisten Menschen gesellschaftliche Anerkennung, soziale Kontakte und bestimmt das individuelle Selbstwertgefühl. Lang anhaltende Arbeitslosigkeit hingegen, die auch immer mit deutlichen Einkommensverlusten verbunden ist, isoliert die Menschen und belastet Familien und Partnerschaften. Eine solidarische Arbeitsmarktpolitik muss daher dafür sorgen, dass alle von den Früchten ihrer Arbeit leben können und die Absicherung elementarer Lebensrisiken, zu der auch Einkommensarmut gehört, gewährleistet ist. Für uns ist darum die Einführung eines Mindestlohns unverzichtbarer Bestandteil der Einführung eines Grundeinkommens – und die Argumentation für ihn wird durch das Grundeinkommen leichter: Der Staat weitet seinen sozialen Anspruch aus. 27 Eine solidarische Arbeitsmarktpolitik muss ein Kernstück grüner Sozialpolitik bleiben und erfordert erhebliche Investitionen in Qualifikation und Weiterbildung, aber auch in einen ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt, um auch Menschen mit Vermittlungshemmnissen eine dauerhafte Perspektive zu geben. 6. Öffentliche Güter und Grundeinkommen Die Finanzierung erfolgt ohne Einsparungen in diesen Bereichen und ermöglicht zusätzliche Spielräume, die jedenfalls nicht geringer sind als bei allen bekannten Grundsicherungskonzepten. Der Ausbau der sozialen Infrastruktur u.a. für Bildung, Betreuung und Beratung schlägt auf der Grundlage grüner Beschlusslage zusätzlich mit 40 bis 60 Milliarden Euro jährlich zu Buche. Dafür könnten verschiedene Instrumente herangezogen werden, wie eine modifizierte Erbschaftssteuer, eine revitalisierte Vermögenssteuer sowie ökologisch gestaffelte Konsumsteuern, schließlich auch eine über die skizzierte Einkommenssteuerquote hinausgehende Progression. IV. Wirkungen des Grünen Grundeinkommens Das Grüne Grundeinkommen ist kein politisches Allheilmittel. Es gibt jedoch eine ganze Reihe grüner Zielsetzungen, die mit Hilfe des Grünen Grundeinkommens erreichbar sind: 1. Armutsvermeidung Das Grundeinkommen stützt kleine und mittlere Einkommen und stellt damit eine substantielle Verbesserung der materiellen Lage breiter Bevölkerungsschichten dar. Durch den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung wird die aktuell dramatisch verdeckte Armut effektiv bekämpft. Die Kosten der Unterkunft werden bedürftigkeitsgeprüft ausgezahlt. Deswegen bleibt ein kleiner Rest an verdeckter Armut bei Menschen, die sich dieser Prüfung nicht unterziehen wollen. Die Zahl der verdeckt Armen ist aber weit geringer als in einem vollständig bedarfsgeprüften Grundsicherungssystem. 2. Gesellschaftliche Teilhabe Mit dem Grünen Grundeinkommen schaffen wir ein ökonomisches BürgerInnenrecht auf kulturelle, institutionelle und materielle Teilhabe an der Gesellschaft. Das materielle Existenzminimum wird für die ganz große Mehrheit der bisher Armen ohne Antrag ausgezahlt. Bei denen, die einen Antrag auf ergänzende Leistungen stellen, wird das Niveau angehoben. Ergänzende Notwendigkeiten stehen nicht im Widerspruch zum Konzept. Das gestärkte Selbstvertrauen der Grundeinkommensbezieher/innen verbessert die Durchsetzungschancen von Bildung und gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten. Durch das Grundeinkommen kann sich das Fachpersonal in den Jobcentern voll und ganz auf die Unterstützung, Beratung und Vermittlung konzentrieren. 3. Anreizwirkung Hartz IV-Haushalte, insbesondere Familien, kommen oft in die Nähe von Durchschnittsverdienerhaushalten. Deshalb fordern Neoliberale häufig eine Reduzierung der Leistungen von Hartz IV. Das wird von den Grünen aber grundsätzlich abgelehnt. Aus armutspolitischen Gründen ist sogar eine Erhöhung der Regelsätze notwendig. Innerhalb des bedarfsgeprüften Systems verletzt diese aber das Lohnabstandgebot noch sehr viel mehr als heute. Mit dem Grünen Grundeinkommen wird das Lohnabstandgebot dagegen eingehalten und gestärkt: Über den steuerfreien Grundeinkommenssockel hinaus wird zusätzlich erwirtschaftetes Einkommen moderat besteuert. Dadurch ist das Lohnabstandsgebot immer optimal erfüllt. Mehr Arbeit lohnt sich immer. Der Mehrertrag von Schwarzarbeit wird geringer (das relative Risiko im Verhältnis zum „Gewinn“ steigt). Mit dem Grundeinkommen gibt es keinen formalen Arbeitszwang, aber einen erheblich gesteigerten Arbeitsanreiz. Warum sollte auch jemand aufhören zu arbeiten, wenn er künftig bei gleichem Aufwand erheblich mehr in der Tasche hat? 28 4. Gendergerecht Anders als bei Hartz IV besteht beim Grünen Grundeinkommen ein individueller Rechtsanspruch, unabhängig vom Haushaltskontext. Der Verzicht auf das Ehegattensplitting bringt die Gleichberechtigung aller Einkommen: Die Verteilung von Erwerbsarbeit in Beziehungen wird freier. Die Privilegierung von Alleinverdienerkonstellationen entfällt. Genderpolitik als Querschnittsaufgabe wird durch ein Grundeinkommen aber nicht unwichtiger oder gar überflüssig, sondern bleibt unverändert notwendig und dringlich. 5. Verteilung Das vorgeschlagene integrierte Steuer- und Transferkonzept hat eine stärkere egalisierende Verteilungswirkung als jedes isolierte Steuerkonzept in der Diskussion. Kleine und mittlere Einkommen werden begünstigt, während obere Einkommensgruppen stärker in die Verantwortung gezogen werden. Durch das Prinzip Bürgerversicherung richtet sich auch die Finanzierung der Sozialversicherungen stärker an der finanziellen Leistungsfähigkeit der BürgerInnen aus. 6. Transparenz Das mit dem Grundeinkommen entstehende integrierte Steuer- und Transfersystem ist wesentlich einfacher, transparenter und übersichtlicher. 7. Unbürokratisch Durch das Grüne Grundeinkommen wird ein Großteil der Sozialbürokratie verzichtbar. Private Einkommensteuererklärungen werden – je nach Variante – fast oder völlig überflüssig. Frei werdende Ressourcen können anderweitig genutzt werden, z.B. für verbesserte soziale Dienstleistungen oder Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung. 8. Wechselwirkungen Ein Grundeinkommenssystem fördert – anders als das heutige System – das Vertrauen in einen gerechteren und verlässlichen Sozialstaat. Die positiven Leistungsanreize und die zu der realen Vielfalt an Lebensentwürfen passende Ausgestaltung stärken ein nachhaltiges Verbraucherverhalten (Investitionen in Wohneigentum, energetische Sanierung) und die Kaufkraft. Der Trend zur weiteren Lohnsenkung wird gestoppt. Flexiblere bedarfsgerechte Arbeitszeitmodelle und eine humanere Arbeitswelt werden durchsetzbarer. Selbständigkeit wird erleichtert, die Personalverwaltung in Unternehmen entbürokratisiert. 9. Verzicht auf Repression Die Bedürftigkeitsprüfung ist nur noch bei einem Bruchteil der bisherigen Fälle notwendig. Sie ist einfacher (objektive Tatbestände) und basiert nicht auf einer unterstellten (Un-) Motivation der Anspruchsberechtigten. Sanktionen sind innerhalb des Systems nur in Ausnahmen möglich, wie z. B. bei säumigen Unterhaltszahlungen. Diese können den zahlungspflichtigen BürgerInnen direkt vom Grundeinkommen abgezogen werden. 10. Unstete Erwerbsbiografien Das Grundeinkommen und der Schutz von Ersparnissen (nur Erträge und große Vermögen werden besteuert) bieten eine unverlierbare Absicherung ohne bürokratische Schikanen. 11. Selbständigkeit Mit dem Grundeinkommen als Basis wird eine „rationale Risikobereitschaft“ gefördert. Das Existenzgründungskapital geht in Investitionen, nicht in die Deckung des unmittelbaren Lebensbedarfs. Existenzgründungen werden so einfacher, da die Kreditwürdigkeit steigt. Auch Niedrigqualifizierte können erfolgreich eine Existenz gründen, bspw. Im personenbezogenen Dienstleistungsbereich. Kleine Selbständige mit schwankenden Einkommen werden unbürokratisch unterstützt. 29 12. Kinder und Familien Der Nettoeinkommenszuwachs ist in Haushaltskonstellationen mit Kindern besonders stark. Die relativ hohe Kindergrundsicherung schützt insbesondere die verwundbarsten Lebensverhältnisse – die mit Kindern. Eltern können sich lebenslagenbezogene Teilzeitarbeit eher leisten. Zugleich lohnt sich die Erzielung von zusätzlichem Einkommen besonders, und zwar für beide. 13. Zivilgesellschaftliches Engagement und Work-Life-Balance Beides wird ermöglicht, kombiniert mit einem starken Anreiz, Einkommen zu erwirtschaften. Dadurch wird keine Lebensweise aufgezwungen. Die individuellen Freiheitsspielräume werden erhöht. 14. Niedrig qualifizierte Beschäftigte BürgerInnen im Niedriglohnbereich haben einerseits ein starkes Interesse dazu zu verdienen, da das Grünen Grundeinkommen nicht komfortabel hoch ist. Sie haben mehr von dazuverdientem Einkommen, da die Anrechnung selbst erwirtschafteter Einkommen viel geringer ist als heute. Dadurch gewinnen sie aber auch an Souveränität: Sie müssen nicht jede Arbeit um jeden Preis annehmen. Der Trend zur Ausbeutung Niedrigqualifizierter wird so gebremst. Das Grüne Grundeinkommen ersetzt damit keinen Mindestlohn. Dieser bleibt unverändert notwendig. Seine Durchsetzbarkeit wird aber durch das Grüne Grundeinkommen einfacher. Der Grund ist: Arbeitnehmer/innen sind in einem Grundeinkommenssystem weniger erpressbar und können Ausbeutung risikoloser anzeigen. Dadurch wird die Position der Gewerkschaften gestärkt und nicht geschwächt, wie oft behauptet wird. Die Einführung eines Mindestlohns ist eine zusätzliche Barriere, die verhindert, dass das Grundeinkommen zu einem Lohnsubventionsmodell missbraucht wird. 15. International Innerhalb der EU gibt es eine Vielzahl von Sozialmodellen, die durch Globalisierungs- und Europäisierungstendenzen unter Druck geraten. Die Krise beitragsfinanzierter, an die Arbeitseinkommen gekoppelter Systeme wird überall gesehen. Im globalen Kontext und in der globalisierungskritischen Debatte spielen Grundeinkommenskonzepte eine zunehmende Rolle – auch weil sie weniger korrumpierbar sind als bedürftigkeitsgeprüfte Sozialsysteme. Auch in einigen Entwicklungsländern gibt es eine starke und breit aufgestellte Graswurzelbewegung für ein Grundeinkommen – etwa in Namibia unter Einschluss von Gewerkschaften und Kirchen. Die finnischen Grünen haben im Frühjahr 2007 ein Konzept beschlossen und in die Regierungsarbeit eingebracht, das dem hier vorgeschlagenen Grünen Grundeinkommen sehr ähnlich ist. In Dänemark gibt es quasi ein Bildungsgrundeinkommen für Studierende. Es gibt also keinen Gegensatz zwischen dem „skandinavischen Modell“ und einem Grünen Grundeinkommen. 16. Komplementäre Erfordernisse Das Grüne Grundeinkommen wirkt als positiver Verstärker und als materielle Grundabsicherung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse bleiben notwendig. Weil bereits ein Grundeinkommenssockel besteht, wird die zusätzlich notwenige Förderung überschaubarer. 17. Perspektiven Durch den gleitenden Einstieg in das Grüne Grundeinkommen wird es möglich, den jeweils nächsten Schritt anhand praktischer Erfahrungen zu debattieren. In welche Richtung die nächsten Schritte führen, kann die Gesellschaft an jedem Punkt neu entscheiden. Sie kann die Prioritäten in einem demokratischen und ergebnisoffenen Prozess jeweils neu aushandeln. Jeder Schritt kann in finanzierbaren und politisch handhabbaren Etappen umgesetzt werden. Diese Offenheit markiert nicht nur einen Vorzug, sondern auch eine Verpflichtung: Kein politisches Konzept befreit das Gemeinwesen von der Notwendigkeit, im Diskurs immer neu über die Ausgestaltung seines Zusammenlebens zu entscheiden. Ein Grundeinkommen wird niemals ein Allheilmittel gegen diskriminierende Lebensumstände von BildungsverliererInnen, Frauen, 30 MigrantInnen und Erwerbslosen sein. Unabhängig von einem Grundeinkommen bleiben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Bildungs-, Gender- und Arbeitsmarktpolitik vorrangige Aufgaben Grüner Politik. Entscheidend ist aber: Wo heute unüberwindbare Hindernisse und Sackgassen erscheinen, wird durch das Grüne Grundeinkommen eine soziale und freiheitliche Politik erst wieder möglich!